Gefühle sind keine Gründe

Eva-Maria Schwickerts transzendentalpragmatische Gerechtigkeitsethik

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Feminismus und Gerechtigkeit" lautet der Titel der von Eva-Maria Schwickert vorgelegten Dissertation. Er verspricht mehr, als das Buch tatsächlich hält. Denn es widmet sich nicht dem feministischen Diskurs mit all seinen unterschiedlichen Positionen zur Gerechtigkeitsphilosophie, sondern konzentriert sich auf die Darstellung und Erörterung der bekannten Kontroverse zwischen Kohlberg und der von ihm vertretenen Gerechtigkeitsnorm einerseits und der Kritik Gilligans an ihr und der von ihr präferierten Fürsorgeethik andererseits. Kohlberg fragte Jungen und Mädchen verschiedenen Alters im Rahmen einer empirischen Untersuchung, ob Heinz ein für seine Frau lebenswichtiges Medikament stehlen soll, das er nicht kaufen kann. Die Antworten unterteilte er nach einem sechsstufigen Schema, das vereinfacht gesagt die Antworten um so höher bewertete, je abstrakter und autonomer sie mit universalistischen Gerechtigkeitsnormen argumentierten. Die höchste Stufe zeichnete sich durch "Orientierung am Gewissen oder an Prinzipien" aus. Es zeigte sich, dass die Antworten der Mädchen gemäß dieser Skala geringer zu bewerten waren als die der Jungen. Gilligan kritisierte die der Erhebung zugrunde liegende Gerechtigkeitsmoral und stellte ihr eine Fürsorgeethik entgegen. Zwar beanstandet Schwickert wie bereits zahlreiche AutorInnen vor ihr die Schwächen von Gilligans Kritik und weist ihr Inkonsistenzen und Missverständnisse nach. Doch greift sie andere Teile als berechtigt auf und entwickelt anhand ihrer eine Gerechtigkeitsethik auf transzendentalpragmatischer Basis.

Schwickerts nicht immer ganz neue - und zum Teil auch von feministischer Seite schon vorgetragene - Kritik an Gilligan ist plausibel. Sie konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Momente: zum einen wirft sie Gilligan vor, dass ihre Kritik "zum Großteil" auf einem "verkürzten Verständnis der Gerechtigkeit" gründe und ihre Deutung von Autonomie als "Isolation und Einsamkeit" deren philosophische Bedeutung "vollkommen" verfehle, da diese auf "Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit des argumentativen Denkens und Urteilens" abziele. Zum Zweiten gehe Gilligans Kritik fehl, weil sie "die Bedeutung der Universalisierung im Sinne von Generalisierung" verkenne. Letzteres bedeute die Verallgemeinerung eines anerkannten Prinzips, Ersteres hingegen die Überprüfung eines Prinzips auf Verallgemeinerungsfähigkeit hin. Hinsichtlich der Begründung der Fürsorgeethik und deren - tendenzieller - Höherbewertung gegenüber der Gerechtigkeitsethik wirft sie Gilligan zudem einen naturalistischen Fehlschluss vor, da sie die faktische Urteilskompetenz der Probandinnen zum normativen Prinzip der Ethik erhebe. Das verwickele sie in einen doppelten Widerspruch: "den logischen Widerspruch der Behauptung zweier Ethiken, die sich selbst widerlegt, da ihre Wahrheit die Gültigkeit eines übergeordneten Prinzips der Ethik voraussetzt", und zum anderen den "performativen Widerspruch der Bestreitung der universalistischen Gültigkeit einer Ethik bei gleichzeitiger Inanspruchnahme derselben im Akt des Bestreitens."

Berechtigt sei hingegen Gilligans Kritik an der "mangelnden Kontextberücksichtigung und hinsichtlich der fehlenden Folgenverantwortung". Doch "die mit dem Begriff der Fürsorge intendierten Anforderungen" stünden entgegen Gilligans Auffassung "nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeitsethik". Um die "Abstraktionsfehler" der Gerechtigkeitsmoral zu vermeiden bedürfe es jedoch keiner Korrektur eines ergänzenden Fürsorgeprinzips. Überhaupt seien dessen grundlegende Kategorien Einfühlung, Fürsorge und Anteilnahme ungeeignet, eine Ethik zu begründen. Denn "Gefühle", so Schwickert lapidar, "sind keine Gründe". Zwar könnte ihre Aufklärung die moralische Bewertung ethisch relevanter Handlungen erklären, jedoch nicht begründen. Schwickert verkennt also nicht, dass Gefühle das Motiv moralischen Handelns sind und als solche stehen Einfühlung, Fürsorge und Anteilnahme nicht in Widerspruch zur Gerechtigkeitsethik, sondern werden von ihr vorausgesetzt. Sie sind die notwendige Bedingung der Möglichkeit einer Ethik, reichen jedoch nicht zu ihrer Begründung hin. Moralische Handlungen seien nicht etwa deshalb moralisch, "weil sie in guter Absicht erfolgen oder wohltätig sind, sondern nur insofern sie konsensfähig sind". Daher seien "Einfühlsamkeit und Anteilnahme [...] 'lediglich' ontologische Bedingungen des Verstehens und Bewertens von Geltungsansprüchen." Das aber ist entscheidend für den Begründungszusammenhang. Denn "als solche" seien sie zwar "durch das Prinzip der Gerechtigkeit gerechtfertigt", doch begründeten sie "nicht ihrerseits ein ergänzendes Moralprinzip".

Das bedeutet nun aber auch, dass eine bloß deontologisch begründete Handlung, eine solche also, die nur auf moralischer Pflicht gründet, in einer nichtidealen Gesellschaft moralwidrige Folgen zeitigen kann. Daher erweitert Schwickert Kohlbergs Modell um zwei weitere Stufen, deren achte und nunmehr höchste "die Zumutbarkeit der Befolgung moralischer Normen anhand der Erfüllung des Prinzips der reziproken Normenbefolgung" überprüft. Damit, so Schwickert, werde der "gesinnungsethische Rigorismus der Vorgängerstufen" gesprengt. Denn es dürfe nicht auf "teleologische", die Verantwortlichkeit des Handelnden betreffende "Hintergrundannahmen" verzichtet werden. Die Lüge, die in einer idealen Gesellschaft schlechthin verwerflich wäre, kann in Verhältnissen, in denen die Wahrheit dem Mörder ein unschuldiges Opfer zuführt, ein ethisches Erfordernis sein. Das aber heißt auch, dass es eine "ethische Pflicht" ist, "die Lebensumstände so zu gestalten, dass sie die Erfahrung liebevoller Zuwendung und intakter Sozialbeziehungen begünstigen."

Titelbild

Eva-Maria Schwickert: Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs.
Akademie Verlag, Berlin 2000.
210 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3050035374

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