Zyklus der Gewalt

Hugo Claus' Roman "Unvollendete Vergangenheit"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hugo Claus, der alljährlich zum engsten Kreis der Nobelpreiskandidaten gehört, wird nicht müde, seinen Ruf als "flämisches Gewissen" zu manifestieren. Vergangenheitsbewältigung ist wieder das Thema des 72-jährigen Autors, der damit nahtlos an seinen letzten Roman "Das Stillschweigen" (dt. 1998) anknüpft.

In seinem neuesten Werk muss es der Leser mit einem geistesschwachen Protagonisten aushalten, der in seiner Kindheit vom Fahrrad gestürzt ist und seitdem einen "kleinen Dachschaden" hat. Dieser Noel ist in seiner geistigen Beschränktheit von einem geradezu fanatischen Gerechtigkeitssinn getrieben und hasst die so genannten "gebildeten Stände" abgrundtief. Eine solche Figur löst äußerst zwiespältige Gefühle aus.

Zu Beginn des Romans sitzt er dem pensionierten Kriminalbeamten Gilbert gegenüber (eine Figur, die an die frühen Dürrenmatt-Kommissäre erinnert), der immer dann gerufen wird, wenn die Ermittlungen mit moderner Computertechnik im Sande verlaufen. Beim Verhör treffen zwei Figuren aufeinander, deren Handeln primär durch Intuition und Spontaneität geprägt ist. Die Konstruktion des Romans ist gleichermaßen simpel wie reizvoll. Der alte Kommissar fungiert mit seinen Fragen als Impulsgeber für Noels Erinnerungen. Ohne große sprachliche Finessen hat Hugo Claus dieses Frage- und Antwortspiel inszeniert und mit beinahe protokollarischer Strenge ein Ausufern des Stoffes verhindert.

So eröffnet sich durch das lange Verhör retrospektiv die grausige Lebensgeschichte des Protagonisten, der als Handlanger in einer Buchhandlung beschäftigt war.

Den Anstoß zu dieser Handlung hat der in Brügge geborene Autor unübersehbar durch die jüngere belgische Geschichte erhalten - durch die schrecklichen Mädchenmorde des Marc Dutroux.

Der schlichte Noel, der, seit ihn "seine Frau verlassen hat", zweimal wöchentlich Besuch von einer Prostituierten bekommt ("Ich bin dumm und geil."), wird durch Zeitungsberichte sensibilisiert. Mehrere junge Mädchen werden vermisst, und dann findet er ausgerechnet in der Post seines arroganten und ihn ständig schikanierenden Arbeitskollegen Dekerpel pornografische Fotos junger Mädchen - dazu noch einige anspielungsreiche Notizen. Das führt zu verhängnisvollen Assoziationen.

Noel beschließt einen Rachefeldzug, der sich zunächst als Bumerang erweisen wird - durch ein Komplott verliert er auch noch seinen Job. Aggressionen stauen sich auf - hinzu kommt Noels permanentes Leiden an der Figur seines Bruders René, der als Kongo-Kämpfer zu zweifelhaftem Ruf gelangt ist und der bereits im Vorgängerwerk "Das Stillschweigen" auftauchte. Irgendwie beschleicht einen das Gefühl, dass die Hauptfigur ebenfalls ein blutiges Zeichen setzen und dem Bruder (eine Art "Mörder im Dienste des Vaterlandes") auf fatale Weise nacheifern will. Seinen Arbeitskollegen Dekerpel richtet er auf bestialische Weise zu und zerlegt ihn wie ein Stück Vieh. Das muss man erst einmal verdauen. Nach und nach erschließen sich weitere Blutspuren. So hat Noel auch den zwielichtigen Notar Albrecht, der durch dubiose Grundstücksspekulationen und andere nicht lupenreine Geschäfte zu respektablem Reichtum gelangte, ins Jenseits befördert. Albrecht hatte versucht, eine Noel nahe stehende, kokainsüchtige junge Frau um ihr Erbe zu prellen. Das Tatmotiv? Im Verhör gibt der Mörder an, dass er nichts anderes als die Wiederherstellung von Gerechtigkeit im Sinn gehabt habe.

Hugo Claus wird alle moralisch motivierten Einwände über diese fragwürdige Form der Selbstjustiz als Kunstgriff wegwischen - mit der geistigen Verfassung des Protagonisten erklären, ebenso Noels exponierten Fremdenhass, der sich in wüsten Beschimpfungen seiner ständig laut betenden arabischen Nachbarn äußert.

Niemand wird einer solchen Romanfigur ohne Vorbehalte folgen können, einem Serientäter, der höchstwahrscheinlich auch seine Frau umgebracht hat. Reue ist für diese deformierte Figur ein Fremdwort.

Hugo Claus' Roman "Unvollendete Vergangenheit" dokumentiert einen katastrophalen Kreislauf der Gewalt - ausgelöst durch die Wahnvorstellungen eines "gestörten" Normalbürgers, der auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert. Es ist etwas faul im Staate Belgien, so könnte - in klassischer Anlehnung - das Leitmotiv lauten.

Doch der intendierte blutige Zyklus funktioniert nicht richtig, weil das Handeln der Hauptfigur durch deren stark verminderte Zurechnungsfähigkeit keinerlei rationalen Kriterien folgt. Zufälle und unglückliche Umstände (vielleicht der Fahrradsturz in der Kindheit) haben Noel zum dreifachen Mörder werden lassen. Hugo Claus hat gewiss etwas anderes im Sinn gehabt, als nur ein - zugegeben spannendes - Mörderporträt zu zeichnen. Doch Noels psychische Deformation verhindert von vornherein, dass man diesen Text als Prisma der belgischen Gesellschaft interpretieren könnte. Eindeutig ein Defizit gegenüber den bedeutenden Romanen "Der Kummer von Flandern" und "Das Stillschweigen".

So fühlt sich der Leser allein gelassen in einer beklemmenden Atmosphäre, den wirren Gedanken eines unzurechnungsfähigen Mörders schutzlos ausgesetzt. Einigermaßen ratlos und doch innerlich stark aufgewühlt konsumiert man diesen Roman. Mit ihm ist es wie mit vielen lukullischen Spezialitäten: man weiß, dass sie schwer im Magen liegen und kann doch nicht von ihnen lassen.

Titelbild

Hugo Claus: Unvollendete Vergangenheit. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
174 Seiten, 17,10 EUR.
ISBN-10: 3608934952

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