Keine Spur mehr von Rache
In Jasmina Rezas Roman "Eine Verzweiflung" rechnet ein Vater mit den Lauen ab
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchimpfen, Granteln, Zetern, Maulen, Murren, Hadern, Rechten - das ist nur eine kleine Auswahl der erstaunlich zahlreichen Wörter im Deutschen für das Sprachverhalten unzufriedener Väter ihren missratenen Kindern gegenüber. Und missraten sind sie zwangsläufig ja fast alle, denn wie sollten sie den vielfältigen Erwartungen und den hochfliegenden Plänen entsprechen, wie sollten sie all das stellvertretend erreichen, was den Vätern versagt blieb?
Traditionell begegnet in der Literatur viel öfter die pathetische Revolte der Söhne gegen das tyrannische Regiment der Väter als das wütende Wettern der Väter gegen die ihnen fremd gewordenen Söhne. Seit dem Expressionismus begleitet der Vater-Sohn-Konflikt in geringen Variationen die moderne Literatur - das Alte, Beharrende, Einengende wird vom Jungen, Vorwärtsdrängenden, Befreienden meist gewaltsam ersetzt.
Das Besondere nun an Monsieur Perlman in Yasmina Rezas Roman "Eine Verzweiflung" ist, dass er seinem Sohn vorwirft, nicht zu revoltieren, nicht Widerstand zu leisten, nicht leidenschaftlich, sondern nur "glücklich" sein zu wollen. Dieser Vater von 73 Jahren empfindet grenzenlose Enttäuschung über die sorglose Globetrotter-Existenz des 38-jährigen Sohnes, der von den Mieteinnahmen der eigenen Wohnung lebt.
In einem Monolog von fast 140 Seiten versucht Monsieur Perlman, reinen Tisch zu machen und lässt seiner Verachtung freien Lauf: "Nachdem die Aufwallungen der Jugend vorüber waren, hast du wieder deinen Platz im Mittelfeld eingenommen. Keine Spur mehr von Auflehnung. Keine Spur mehr von Rache. Keine Spur mehr von Leidenschaft. Alles, was einen Mann erfüllt, ihn stärkt und ihn über seine Verhältnisse hinaushebt, hast du in der Versenkung verschwinden lassen. Du hast das Fieber durch das Maß ersetzt [...]. Schmerzvermeidung, das ist euer Horizont. Schmerzvermeidung tritt bei euch an die Stelle des Heldenepos. Darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen, aus der Clique der geköpften Blumen. Es wäre mir lieber gewesen, du wärst ein Verbrecher oder ein Terrorist geworden, als ein Aktivist des Glücks."
Leicht geht man der farbigen, wortreichen und leidenschaftlichen Erzählweise des Vaters auf den Leim. Wie stilisiert er sich, der pensionierte jüdische Stoffhändler in der französischen Provinz, als ewig zynischer Haustyrann, als Casanova, als Philosoph der Einsamkeit und Verzweiflung! Wie schwungvoll und selbstironisch schildert er den Alters-Flirt mit der bezaubernd lachenden Geneviève! Wie spottet er in bitterbösen Formulierungen über seine Frau, seine Tochter, seine Freunde, seinen Sohn und vor allem über die jetzige so unheroische Zeit: "Ich habe nur einen einzigen Wunsch, den Planeten mit Krieg zu überziehen."
Merkwürdigerweise verkannten viele Kritiker die Rollenprosa von Yasmina Reza, obwohl die Autorin doch auch Regisseurin und Schauspielerin ist. Die Wut- und Trauer-Suada von Monsieur Perlman lässt sich nicht einfach als ungebrochene Zeitkritik lesen. Reza benutzt ihn keineswegs als Sprachrohr, um durch ihn Zerstörung, Gewalt und Leidenschaft zu fordern, wie vor dem Ersten Weltkrieg Georg Heym, Ernst Stadler oder Thomas Mann, die ein reinigendes Stahlbad für ihre friedensmüde, erstarrte Zeit ersehnten.
Überdeutlich schlägt doch der Zynismus im letzten Drittel um in eine tiefe Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach dem Sohn, wie er sein sollte, nach Verständnis für ihn, den Vater, der nicht mehr aus seiner selbst geschaffenen Pose herausfindet. Das entwertet keineswegs seine Diagnose einer veräußerlichten, oberflächlichen Lebensart unserer Zeit, aber es relativiert ihre extreme Argumentation. Perlman findet keine Sprache, um seine Tochter oder seine zweite Frau Nancy zu erreichen. Weil er unentwegt kritisiert, "glauben sie mir nie. Sie halten alles, was ich sage, für jämmerliche, unpassende Possen. Das führt mich natürlich zu den schlimmsten Extremen."
Trotz der fundamentalen Schwäche der Grundkonstruktion - die Rede an den Sohn wirkt nicht nur wegen ihrer Dauer, sondern vielmehr wegen ihrer komplexen Binnengliederung, vor allem am Schluss, höchst unwahrscheinlich - hält Yasmina Reza den Leser in Atem: durch den konsequenten Ton des Vaters, durch die überzeugende und Mitgefühl auslösende Selbstentblößung im Verlauf seiner Rede, die gleichzeitig (darin liegt wahre Virtuosität) die Entwicklung des Komischen vom vernichtenden Sarkasmus und bitteren Zynismus über Slapstick und nachsichtigen Spott bis zur heiter-tragischen Selbstironie vorführt.
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