Etwas Leuchtendes
Klaus Kastberger vermittelt Einblicke in Friederike Mayröckers Schreibpraxis
Von Peter Reichenbach
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist ungewöhnlich, dass AutorInnen ihre Manuskripte so freigiebig an ein Archiv weitergeben - in unserem Falle der Vorlass von Friederike Mayröcker im Österreichischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek, deren Mitarbeiter der Autor dieses Buches ist. Klaus Kastberger legt ein beeindruckend umfangreiches, philologisches Buch zu dem im Suhrkamp Verlag erschienenen Band "Reise durch die Nacht" von Friederike Mayröcker vor: "Reinschrift des Lebens".
"Schon frühzeitig haben die Germanisten erkannt, daß angesichts solcher Texte ein Überdenken der eigenen Sprechvoraussetzungen und eine innovative Adaption des vorhandenen Instrumentariums notwendig ist", stellt Kastberger bereits in "Dossier 14 - Friederike Mayröcker" in seinem Essay "PUNKT UND FLÄCHE" fest. Dieser Feststellung folgend, versucht Kastberger in "Reinschrift des Lebens" einen neuen Weg: Das gesamte relevante Material des Vorlasses wurde von Kastberger gesichtet, editiert und diesem Buch als knapp 200-seitiger Anhang angestellt. Dies ermöglicht dem Leser, die exemplarischen Analysen und Thesen Kastbergers erneut zu überprüfen und sich ein eigenes Bild zu machen. Kastberger versucht mit Hilfe der vorliegenden Manuskripte, exemplarisch über den Vergleich der unterschiedlichen Stationen dieses Textes (also Manuskripte, Versuche, Notizen, Zwischenstadien usw.) Einblick in die Schreibpraxis Mayröckers zu bekommen. So soll das Werk Mayröckers "aus der Zone des Ungefähren" herausgeführt und besser verstanden werden; gleichzeitig soll eine wissenschaftliche Sprache gefunden werden. Er nennt sein Vorgehen "die genetische Methode" oder "Philologie des Schaffensaktes", mit der er sich auf der einen Seite von den bisherigen konstruktivistischen Ansätzen abgrenzt ("Die konstruktivistische Poetik spricht, um damit die 'Eigentätigkeit' des Lesers auf den Plan zu rufen, mit oder neben den Texten Mayröckers, nur spricht sie eben (gemäß ihrer theoretischen Implikation) niemals über diese"). Auf der anderen Seite ist er sich aber auch der Grenzen der eigenen Methode bewusst: "[Adorno] spricht hier zugleich den Grenzwert eines solchen literatur- und kunstwissenschaftlichen Vorgehens an: Moderne Kunstwerke folgten demnach 'ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genese verzehren'." "Was an der Genese des Textes philologisch zu erheben war, findet seinen Umschlag ins Ästhetische [...]."
Was also sagt Kastberger durch Anwendung seiner Methode über die Texte Mayröckers: In seiner Analyse setzt er drei Schwerpunkte - zum einen auf den autobiographischen Einfluss, zum Zweiten auf den Umgang mit Quellen (in "Reise durch die Nacht" sind es vorrangig Bilder von Goya sowie Texte Jacques Derridas) und zum Dritten auf die Art und Weise der Zusammenführung der Materialsammlung zum fertigen Text auf u. a. linguistischer und intertextueller Ebene ("Sprachliches Wachstum und Ästhetische Form").
Besonders anschaulich ist der Abschnitt, in dem Kastberger den Einfluss der Goya-Quellen aufzeigt. Anhand der ersten Version einer Textstelle lässt sich zunächst eine eindeutige Assoziationskette, von dem Wort "Goya" ausgehend, nachvollziehen: "'Goya' kommt aus 'Spanien', 'spanisch' heißt 'stolz', in 'Spanien' liegt die Stadt 'Barcelona'" (alle diese Worte kommen in dieser ersten Version des Textes vor). In der zweiten und dritten, überarbeiteten Version hingegen bleiben nur noch "spanisch" und "stolz" übrig, während die gestrichenen Wörter als "latenter Verweis inhärent" bleiben.
Diese vollzogene Komprimierung bei der Entstehung des Textes kann als eine der vielfältigen Verfahrensweisen Mayröckers festgehalten werden. Kastberger zeigt jedoch, dass Mayröcker in der Produktion ihrer Texte nicht immer auf diese Weise verfährt: An einem anderen Beispiel wird deutlich, dass erste Versionen von Texten durchaus auch in extrem hoher Komprimiertheit vorliegen können, im weiteren Verlauf aber eine gewisse Aufschlüsselung, Erweiterung und Dekomprimierung erfahren.
Eine solche Analyse leistet also, dass der Rezipient eine Idee davon bekommt, in welchen Dimensionen sich die Texte Mayröckers motiviert bewegen. Kastberger kann auf diese Weise den Vorwurf der Beliebigkeit, der von Kritikerseite an die Texte Mayröckers gerichtet wurde, widerlegen. Stattdessen lässt sich zwar ein in gewisser Weise "spielerische[r] Umgang mit den Worten" feststellen, doch belegt er vor allem ein gesichertes "Netzwerk gegenseitiger Bezüge", das vorhanden ist, ohne weiteren Assoziationen einen beschränkenden Rahmen zu geben.
Ähnliche Erkenntnisse ergeben sich in allen anderen Untersuchungen und bringen Einsichten in das Werk Mayröckers, die nur auf diesem Weg möglich und vor allem nur so, auf wissenschaftlicher Ebene, begründbar sind, was für die Anwendung der "genetischen Methode" auf die Texte spricht.
Die Stärke Kastbergers ist die überzeugende Wissenschaftlichkeit in seinem Vorgehen und seinen Aussagen - um so verwirrender, wenn er diesen Weg stellenweise verlässt und in Vermutungen abrutscht und beispielsweise über die Gründe der Streichungen Mayröckers spekuliert: "Die in den Augen der Autorin wahrscheinlich all zu naheliegende Assoziation von 'Spanien' zu 'Barcelona' wird ersatzlos gestrichen." Vermutungen, die unbegründet bleiben und die für das Verständnis zudem nicht notwendig sind.
"Es ist ein ungeheurer Reiz, aus dem, was schon da ist, etwas Leuchtendes entstehen zu sehen", sagt Friederike Mayröcker in einem der zwei ebenfalls in diesem Buch zu findenden Gespräche. Es lohnt sich, diesen Reiz mit der Autorin gemeinsam zu erleben.
Kastberger erreicht durch sein Buch, dass jeder, der "Reise durch die Nacht" noch nicht gelesen hat, es lesen wird und jeder, der es schon gelesen hat, es mit neuen Augen noch einmal lesen wird.
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