Viel geschmäht und heiß geliebt

Steineckes und Wahrenburgs Anthologie "Romantheorie"

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geliebt und gehasst werden die kleinen Heftchen aus dem Hause Reclam. Dem geneigten Leser eröffnen sie die Welt der Literatur zum kleinen Preis, während mancher Deutschlehrer seine über die Reclam-Ausgabe des "Faust" gebeugten Schüler mit der Frage quält: "Was will uns der Dichter sagen?" Seit etwa Mitte der 90er Jahre werden bei Reclam auch Anthologien mit literaturtheoretischen Texten verlegt. Der Band "Romantheorie" wurde von Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg herausgegeben.

Wegen des Images der Universal-Bibliothek, kanonische Texte möglichst preiswert feilzubieten, mag ein Betrag von 24 Mark zunächst überraschen. Doch schon ein flüchtiger Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass die "Romantheorie" den Preis mehr als nur rechtfertigt. Auf 577 Seiten (!) bieten die Herausgeber eine üppige Auswahl an Texten "vom Barock bis zur Gegenwart". Der älteste Text stammt von dem anonymen Übersetzer des 24 Bände umfassenden Romans "Amadis" - ein gesamteuropäischer Bestseller des 16. Jahrhunderts, der jüngste ist der Essay "Roman oder Leben -?" von Sten Nadolny, der 1993 in der "Neuen Rundschau" erschienen ist. Dazwischen liegen sattsam bekannte Textausschnitte von Georg Friedrich Harsdörffer ("Frauenzimmer Gesprächspiele"), Friedrich Schiller ("Über naive und sentimentalische Dichtung") und Friedrich Schlegel (Ausschnitte aus den "Athenäums"-Fragmenten), aber auch weniger bekannte Namen wie der Barockdichter Johann Rist oder Texte von Personen, die man nicht in erster Linie mit Romantheorie in Verbindung bringt: Friedrich Engels wäre zu nennen, der sich - man mag es schier nicht glauben - mit der sozialen Frage im Roman auseinander setzt.

Von akademischer Seite wird der Universal-Bibliothek gerne angekreidet, dass die Textausgaben philologisch nicht brauchbar seien. Die Herausgeber dieser Anthologie haben sich um möglichst textgetreuen Abdruck der Texte bemüht, wobei heute nicht mehr geläufige Wörter oder solche, deren Bedeutung sich verändert hat, in Fußnoten erläutert werden. Der berüchtigte Zusatz von der "behutsamen Angleichung an die heute gebräuchliche Orthographie und Interpunktion" fehlt. Die Texte werden knapp kommentiert, was hier allerdings kein Nachteil ist, dadurch werden sie nicht vom akademischen Wust begraben. Neben den Erläuterungen in den Fußnoten haben die Herausgeber jedem der ausgewählten Texte eine Kurzbiographie des jeweiligen Autors vorangestellt. Wenn der Text nur ein Ausschnitt ist, wird er in den Gesamtzusammenhang eingeordnet. Besonders gelungen sind die Verweise auf vorangehende und nachfolgende Texte, die es ermöglichen, bestimmte Diskurse um die Gattung Roman in der Anthologie zu verfolgen. Unterstützt wird der Leser darin durch einen kombinierten Autoren- und Titelindex und das Vorwort, in dem die Entwicklung der Romantheorie und der Wertschätzung bzw. Nichtwertschätzung des Romans vom Barock bis zu seiner Blütezeit im 20. Jahrhundert als Überblick dargelegt wird. Da sich die gesammelten Texte größtenteils auf einzelne Romane beziehen und von einem Beispiel ausgehend Rückschlüsse auf die Gattung ziehen, anstatt sich abstrakt mit dem Roman zu beschäftigen, sollte man das Vorwort auf jeden Fall mit den Texten der Anthologie zusammen lesen. Für sich allein stehend wäre es etwas knapp ausgefallen.

Wünschenswert wäre gewesen, wenn die Herausgeber noch öfter über den nationalen Tellerrand geschaut hätten, da gerade die Romanliteratur sehr schnell Ländergrenzen überschritten hat. In den deutschen Leihbibliotheken des 19. Jahrhunderts machten Übersetzungen einen Großteil des Bestandes aus. So finden sich in der Anthologie zwar einige Texte von deutschen Autoren zu europäischen Kollegen, aber der europäische Blick auf deutsche Romane fehlt in Steineckes und Wahrenburgs Sammlung. Angesichts der Fülle an Material und dessen gelungener Aufarbeitung fällt dies jedoch nicht ins Gewicht.

Titelbild

Hartmut Steinecke / Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart.
Reclam Verlag, Stuttgart 1999.
578 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3150180252

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