Wiener Heterotopien oder das Leben als ständige "Türauftürzugerissenheit"
Zu Gert Jonkes Prosaanthologie "Himmelstraße - Erdbrustplatz oder Das System von Wien"
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Indem ich jeden Satz der Erzählung vom folgenden Satz der Erzählung durch einen Satz einer zweiten oder dritten Erzählung trenne [...], erhalte ich viele Erzählungen einer einzigen Erzählung", lautet Gert Jonkes literarische Weltformel. Der Gegenstand und die Reflexion auf das, was ihn als Gegenstand ausmacht, sind für Jonke schwerlich zu trennen. Seine Poesie ist zwischen, unter und über den Zeilen zugleich auch Poetik, mehr noch: Jonke reflektiert die Bedingungen des Schreibens und die Qualitäten von Schrift - als die unabdingbare Bedingung der Möglichkeit des Beschriebenen.
Linearität und Stillstand, Zeit und Raum, Natur und Kunst, Weltflucht und zivilisationskritisches Engagement durchdringen und überlagern sich auf vielfältige Weise in seinen Texten. Jonkes Trachten, die komplexe Verschachtelung seiner Texte zu einer sprachlichen Synthese gelangen zu lassen, führt zu mitunter skurrilen Neologismen und zeitlichen wie räumlichen Verschiebungen der Bedeutungsgehalte einzelner Wörter. Seine Wort-Musik malt durch den Verstand allein nicht auflösbare Bilder, die das moderne Individuum mit seinen stets unerfüllten Sehnsüchten zeigen. Jonke konfrontiert häufig in seinen Texten zwei einander suspendierende Formen der Wahrnehmung: die des protokollarischen Erzählens, worin einfach eine Tatsache kenntlich gemacht werden soll, und die minutiöse, Bruchteile von Sekunden dehnende (über-)genaue Wahrnehmung, die sogleich Gedanken der 'Unwirklichkeit' provoziert, obgleich sie die eigentlich genauere Wirklichkeit ist. Damit klingt - in kafkaesker Manier - immer auch ein Zentralthema der Texte Jonkes an: das Problem der unüberbrückbaren Differenz der subjektiven und objektiven Realität, die Frage nach dem, was 'wirklich' ist.
In seiner Anthologie "Himmelstraße - Erdbrustplatz oder Das System von Wien" wird dieses Anliegen munter auf die Spitze getrieben. Unter der Genauigkeit und Hyperreflexivität der Wahrnehmung zerfließen die Konturen der Wirklichkeit. Jeder Vorgang erscheint zeitlupenhaft verfremdet. Im Textstück "Herbstnebel - Rosenhügel" etwa berichtet der Erzähler über einzelne Bezirke von Wien, "wie sie im Nebel an solchen Tagen daliegen, an denen man glaubt, das Leben folge unter der Straßendecke verborgenen katakombischen Bahnen." Erinnert wird die Begegnung mit einem Bildhauer, der die Fragwürdigkeit der sinnlichen Wahrnehmung thematisiert: "Sie werden nun glauben, ich sei ein Bildhauer, [...] aber das ist ein Irrtum. Sie glauben, ich stände hier unter diesem Baum und beschäftige mich mit dieser zugegebenermaßen eigenartigen Skulptur, aber das verhält sich keineswegs so, nein, auch daß Sie jetzt hier stehen, neben mir stehen, ist eine reine Vorstellungsangelegenheit, und selbstverständlich befinden wir uns naturgemäß immer irgendwo anders, als uns eigentlich den Gegebenheiten gemäß erscheint, horchen Sie, wahrscheinlich befinden wir uns nirgendwo anders, jawohl, als in einem, wie sagt man, mehr oder weniger abgeschlossenen Raum, einem uns verdächtig bekannt vorkommenden Zimmer, Sie werden es nicht für möglich halten, ja was machen wir denn dort, nun Sie werden schon wieder nicht glauben, aber horchen Sie, wir sitzen, ja, sitzen vermutlich an einem Tisch, und was machen wir da, Sie werden staunen, wir schreiben, jawohl, wir schreiben, was, zunächst schreiben wir, daß wir in diesem Raum, wie sagt man, sitzen, aber das wird uns nicht genügen, Sie verstehen, seit wann genügt es, wenn man schon etwas schreibt, einfach zu schreiben, man säße in einem verdächtig in sich abgeschlossenen Zimmer, nein, also schreiben wir etwas anderes, wir schreiben also nicht, wir säßen in diesem Zimmer, nein, was schreiben wir dann, Sie werden sich gar nicht wundern, jawohl, Sie werden einzusehen wissen, daß wir alles mögliche, nur nichts von diesem Zimmer schreiben."
Dieser Drang nach Heterotopie verbindet sich mit einer permanenten Heterographie. Schreibende Wahrnehmung der Wirklichkeit und Wirklichkeit sind nicht identisch, im Gegenteil: sie produzieren - in einem regressus ad infinitum - ein permanentes Sich-Weiter-Schreiben durch die "katakombischen Bahnen der Erinnerung". Programmatisch wird deshalb in dem glänzenden Textstück "Karyatiden und Atlanten - die ersten Gastarbeiter von Wien" das eigene Schreiben mit den "verkalkten Erinnerungen" und den "versteinerten Worte[n]" der Telamonen verglichen, denen der Erzähler "innig zugetan" war: "Das zeigte sich insbesondere dahingehend, daß ich mit abnehmender Häufigkeit einem ganz bestimmten charakteristischen Gefühl unterworfen war; nämlich eine sehr bewegliche Karyatide, nein, einen sehr lebhaften Atlanten darzustellen, der zwar kein Haus, kein Tor, keinen Erker auf seinen Schultern zu stützen oder zu tragen hatte, dafür aber eine in ihrem Gewicht verglichen damit sicher nicht zu unterschätzende, im äußerlichen Ausmaß mich jedoch unvorstellbar überwältigende, auf allen meinen Wegen mich treu begleitende Luftsäule, die mir von den Schultern aufwärts bis an die letzte Dachstuhlhaut der Atmosphäre reichte, deren Last ich in letzter Zeit immer überdrüssiger geworden war."
An vielen Stellen der Anthologie wird das 'unterirdische Schreiben' reflektiert: etwa wenn von der "in Zeilen unlesbarer Schrift eingeteilte[n] Landschaft voll von teils vermorschten, teils gepflegten, bewohnten oder unbewohnten Holzhütten und Schrebergartenhäuschen", von der Schilderung des Traums von der eigenen Kopfhaut, von der "unklaren Schreib- und Ausdrucksweise auf Grund [...] mangelnde[r] Schilderungstechnik" oder gar davon die Rede ist, dass das Leben eine "ständige Türauftürzugerissenheit" sei. Unlöslich verknüpft ist dieses Schreiben mit dem "System" der Stadt Wien als dem phantasmagorischen Ort der Texte. Zwischen den einzelnen Kapiteln der Stadtbeschreibung herrscht jedoch nur ein loser Zusammenhang, ihnen ist höchstens der Umstand gemein, dass sich ein Spaziergänger auf den Weg macht oder die Straßenbahn nimmt, um dem labyrinthischen "System von Wien" zu folgen. Die Verschachtelungen der Texte verweisen auf die 'systemimmanenten' Heterotopien Wiens, einer irrealen, unübersichtlichen, unlesbaren Stadt. Hierzu bemerkt Jonke anfangs: "Als ich 1966 das erste Mal nach Wien übersiedelte, begann ich sofort nahezu fieberhaft an einem niemals fertiggestellten Roman über eine große Stadt zu arbeiten. Das System der Straßenbahnlinien von Wien hatte mich von Anfang an fasziniert, und genau die Strecken der einzelnen Tramways entlang gedachte ich die Handlungsfäden des erträumten Buches zu spannen, in denen sich bald schon genug Geschichten verfangen würden und dann auch tatsächlich verfingen. So versuchte ich das mir fremde Wien zu erlernen, indem ich erfundene Geschichten von befremdlichen Begebenheiten und Begegnungen, die nie stattfanden, der mir fremden unbekannten Stadt und ihren Bewohnern unterschob."
Entlang einer durch humoristisch-ironische Brechungen und wuchernde Hypotaxen charakterisierten Sprache vollführt Jonke einen Balanceakt, wenn er am Ende "sozusagen die Leiter wegwirft, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist." Nicht zu verkennen ist jedoch, dass sich seine mitunter explosive Sprachakrobatik oft auch hart am Rande eines "uferlosen" Gequatsches bewegt. Augenzwinkernd weiß der Erzähler auch diesem Problem zu begegnen: "Das Buch, das mir der Vertraute des Kanzlers überreicht hat, habe ich in den nächsten Papierkorb hineingelegt. Es ist ein sehr heißer Tag gewesen, und ich habe es als zu umständlich, unbequem und auch unnötig empfunden, ein Buch unter dem Arm zu tragen. Titel des Buches: Das System von Wien." Selbstironisch verweist Jonke damit auf sein eigenes Schreiben: Die Textsammlung hat sich zu keinem Roman verdichtet, auch wenn es die nun insgesamt dritte Fassung eines Fragment gebliebenen Projekts zur Stadtbeschreibung ist. Auch das beste System taugt mitunter nur noch für den Papierkorb.
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