Einseitige Hyphologie

Henning Teschke liest Proust durch Benjamin, aber nicht umgekehrt

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Möglichkeit der Erinnerung in der Moderne manifestiert sich vor allem in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität. Die Konstruktion von Erinnerung reflektiert zugleich die spezifischen Bedingungen der Moderne mit, d. h. vor allem ihren destruktiven Gestus. Diese Dialektik von konstruktiver und destruktiver Erinnerung prägt auch die literaturtheoretischen Texte Walter Benjamins. Dort erscheint die Moderne weniger bestimmt vom Verlust konkreter, zeitlich zu situierender Fakten, als vielmehr von der Unverfügbarkeit dieses Rahmens, des generellen Verlusts der Kommunizierbarkeit der Erinnerung. Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist in Benjamins Lesart eine, die zwar noch Erinnerung als Ereignisbericht auf der Textoberfläche produzieren kann, die jede formale Struktur der Erinnerbarkeit als Erzählbarkeit jedoch verloren hat.

Wenn im Bereich des Ästhetischen Zerfallen, Destruktion und Vergessen den Modus des erinnernden Fortlebens bestimmen, so tritt diese Ansicht umso schärfer hervor, wenn man sie mit Typen einer konstruktiven Erinnerungspoetik kontrastiert. Eine solche Theorie erinnernden Erzählens scheint vor allem Marcel Prousts epochemachendem Werk "A la recherche du temps perdu" zugrunde zu liegen. Wenn Benjamin in seinem Proust-Essay schreibt, erst Proust habe "das neunzehnte Jahrhundert memoirenfähig gemacht", dann übersteigt dieses Œuvre aber die Bedeutung eines exemplarischen Erinnerungstextes. Proust scheint vielmehr prinzipiell die Bedingungen der Möglichkeit der Erinnerung im 20. Jahrhundert abzustecken. Und das, insofern das 19. Jahrhundert in toto anstelle individueller Geschichten erinnerbar wird. Generell findet sich der Erinnerungsschreibende nach Benjamin vor die garstige "Diskrepanz zwischen Poesie und Leben" gestellt; statt dessen ergibt sich eine Dominanz des Werkes über das Leben: "Man weiß, daß Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, der's erlebt hat dieses Leben erinnert. [...] Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens." Das Leben fällt also gänzlich aus dem referentiellen Feld des Textes hinaus: Statt dessen ist es das Erinnern selbst, das Prousts Werk zum Inhalt hat. In einer an Freud erinnernden Unterscheidung verweist Benjamin die tatsächliche Erinnerung in das Jenseits bewusster Wahrnehmung: "Zur Kenntnis der mémoire involontaire: ihre Bilder kommen nicht nur ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns erinnerten."

Die Bilder einer unwillkürlichen Erinnerung können immer nur ungültige Bruchstücke des unbewussten Kontinuums darstellen. Das erlebte Leben ist "vergessen", "verschüttet" worden und nur in der vollständigen Verwobenheit mit dem Bereich des Unbewussten vorhanden. Benjamin veranschaulicht diesen Gestus der Verwobenheit einerseits bildlich durch die Metapher des Teppichs, den das Vergessen im Unbewussten aus dem Erlebten webt, zum anderen durch das textum, den Text, den Prousts Werk auf der Oberfläche bildet. Dem korrespondiert in der Bildlichkeit des Essays die "Penelopearbeit des Eingedenkens". Penelope löst nachts aus genau demselben Grund das am Tage Gewebte auf, aus dem Proust sein Schreiben zu einer opera aperta macht: um nie zum Ende kommen zu müssen, um die trügerische Heraufkunft der Erinnerung aufzuschieben. Was letztlich erinnerbar bleibt, ist lediglich die Szene des Schreibens selbst: Proust hinterlässt in seinem verdunkelten Zimmer "die ungezählten Blätter, die er in der Luft mit seiner Handschrift bedeckte" als einziges Zeichen der Unabschließbarkeit der Erinnerung im Zeichen des Vergessens. Kann das Schreiben nicht länger Stabilisator der Repräsentation eines vergangenen Lebens (wie etwa noch bei Augustinus und Rousseau) sein, so hinterlässt 'Schrift' aber in jedem Fall die Spur ihres Geschriebenwerdens. Benjamins Proust ist ein Schreibender, dessen Geste als Entwurf von Bezügen dem schrankenlosen Gewebe des Teppichs aus Vergessenem strukturell gerecht wird. Das beschriebene Papier ist nicht mehr der Ort der wiedergefundenen Erinnerung, sondern nur noch die Materialisation dieser Bezugsstiftung, die die Gegenwart des Schreibens als "Spur" forterinnert.

Dieser Unabschließbarkeit des erinnernden Schreibprozesses ist auch Henning Teschkes vergleichende Studie zu Proust und Benjamin verpflichtet. In ihren Ausführungen zu Proust steht der Terminus der mémoire involontaire, im zweiten, Benjamin gewidmeten Teil der des dialektischen Bildes im Vordergrund. Verfolgt wird die "Petitio principii von Explicans und Explicandum, sofern Benjamin auf Proust, in der Folge Proust auf Benjamin abgebildet wird, wobei das zu verstehende Phänomen und der Grundriß seiner Erklärung sich reziprok immer schon voraussetzen, die Differenz von Theorie und Roman, metaästhetischer und ästhetischer Wahrheit unterlaufen." Dieses Telos von mémoire involontaire und dialektischem Bild konzentriert Teschke auf die Frage nach der Darstell- und Theoretisierbarkeit von Erinnerung. Besonders die archäologische Technik der "Recherche", deren verborgene und vergessene Einheit sich erst gegen Ende zu erkennen gibt, rekurriert auf keine narrative Kausalität: "Mit der Disjunktion von Handlung und Charakteren, die einander nicht länger bedingen, löst sich der chronologisch-lineare Verbund der organischen Teileinheiten zur Fabel." Sinn, darauf verweist Teschke zurecht, ergibt sich nicht mehr aus einer wie auch immer gearteten erzählten Sukzession. Teschke liest Proust mit den Augen Benjamins und so verwundert es auch nicht, dass seine Arbeit in ihrem ersten Teil ästhetische, philosophische und geschichtstheoretische Kategorien Benjamins für die Exposition des Verhältnisses von Ästhetik und Philosophie, Metaphysik und Geschichte bei Proust heranzieht. Das ist vom Ansatz her nicht unbedingt neu, verdient aber aufgrund der äußerst gewissenhaften und inspirierenden Parallel-Lektüre durchaus Beachtung.

Auch der zweite Teil der Arbeit (über das doch einigermaßen in der Luft hängende "Zwischenstück: Der Individualitätsbegriff bei Leibniz" sei der Mantel des Schweigens gelegt) bietet auf den ersten Blick nichts Neues, wenn als dessen Fokus die Erläuterung der "dreifache[n], theologisch-metaphysische[n], ästhetische[n] und biographische[n] Herkunft des dialektischen Bildes" ausgegeben wird. Auch die Erkenntnis, dass der "sytematische Ort, den das dialektische Bild im Passagen-Werk einnimmt", in früheren Texten durch den Namen, die Idee, den Ursprung und die Monade besetzt sei, ist spätestens seit den Arbeiten von Stéphane Mosès, Bettine Menke und Sigrid Weigel, die nur sehr rudimentär Eingang in Teschkes Untersuchung gefunden haben, hinlänglich geklärt.

An Stelle eines erneuten Aufgusses Benjaminscher Theoreme wäre es wesentlich produktiver gewesen, die interessanten Ergebnisse zu Prousts "Recherche" mit der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" und anderen autobiographischen Projekten Benjamins zu vergleichen. Dort nämlich ist Paris als Hypotext von Berlin stets präsent: "Kaum wäre es mir möglich, dem Hin und Wieder dieser Erinnerungen an mein frühestes Stadtleben mich zu überlassen, stünden nicht von Paris her streng umschrieben die beiden einzigen Formen vor mir, in denen das auf legitime Art, das heißt mit der Gewähr der Dauer geschehen kann [...]. Die erste Form ist geschaffen im Werke von Marcel Proust und der Verzicht auf jedes Spielen mit verwandten Möglichkeiten wird schwerlich eine bündigere Gestalt finden, als die der Übersetzung, welche ich ihr zu geben vermocht habe. [...] Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben; und nun geht die Erinnerung vom Kleinen ins Kleinste, vom Kleinsten ins Winzigste und immer gewaltiger wird, was ihr in diesem Mikrokosmos entgegentritt. So das tödliche Spiel, mit dem Proust sich einließ, und bei dem er Nachfolger schwerlich mehr finden wird als er Kameraden brauchte." Der eigene Text wird bei Benjamin in die Absage an jede Möglichkeit der Nachfolge eingeschrieben. Noch im Vorwort zur "Berliner Kindheit" ist Benjamins Betonung, er rufe sich das folgende "mit Absicht" in Erinnerung als Gegenpoetik zur mémoire involontaire zu lesen, die letztere als Negativfolie dennoch weiter-erinnert.

Auf der Suche nach den Erinnerungen aus der eigenen Kindheit stößt Benjamin daher wiederholt auf solche seiner intensiven Proust-Lektüre, die den Text präformieren. Die "autobiographischen Erinnerungen" sind deshalb im Wesentlichen Fremderinnerungen, die Referenzen der im Text evozierten Erinnerungsbilder stammen nicht aus dem Fundus des gelebten Lebens, sondern sind textueller Natur. Die Lektüre dieser Texte legt sich als weitere Schicht über das autobiographische Ich, das in summa als fremder "Text", als Ergebnis eines wuchernden Zeichenprozesses erscheint. Diese latente Intertextualität dezentriert daher von Anbeginn an den eigenen Text. Spätestens seit Lacan kann als gesichert gelten, dass, wird die Struktur aufgelöst, das imaginäre Ego des Textes als bloßes Bild kenntlich ist. Diesem gilt - wenn auch mit anderen Gesten - das Erinnerungsschreiben Prousts wie Benjamins, nicht einem autobiographisch verifizierbaren Substrat. Die von Benjamin wiederholt konstatierte "Diskrepanz von Poesie und Leben" zeigt das Ich nur als strukturell gesichertes Imaginäres des Schreibens. Davon ist bei Teschke nicht die Rede, obwohl seine Ausführungen zu Proust diese Lektüre durchaus nahegelegt hätten.

Auch Benjamins Weiter-Schreiben des textum-Motivs bleibt unbeachtet. Das "Weben der Erinnerung" Prousts wird mit den Kinderspielen Basteln und "Bilder auszuschneiden" verglichen, die exakt die diskontinuierliche Textstruktur einer Bastelei bilden: "Ausnähsachen [...], in die es nach der Zeichnung Blumen nähte. Und während das Papier mit leisem Knacken der Nadel ihre Bahn freimachte, gab ich hin und wieder der Versuchung nach, mich in das Netzwerk auf der Hinterseite zu vergaffen, das mit jedem Stich, mit dem ich vorn dem Ziele näherkam, verworrner wurde." Als Erinnerungstechnik ist die Passage nur dann lesbar, wenn man in ihr die Struktur des "rückwärtige[n] Muster[s] des Teppichs aus dem "Proust"-Essay wiedererkennt. Erneut wird die Brücke zum Schreiben über die Etymologie von textum hergestellt. Das Gewebe des Textes zerfällt dabei in die Summe aller zugrundeliegenden Erinnerungen, bestehend aus der kontinuierlichen Struktur der 'Vorderseite' und den unsystematischen, strukturzerstörenden Referenzen der 'Hinterseite' - auch hier wieder die "Penelopearbeit des Eingedenkens". Das Tableau der Erinnerung - das wird auch hier wieder sichtbar - rotiert und ist auf kein Zentrum fixierbar. Und das vor allem, weil sich der Text selbst seiner eigenen Teleologie und Stillstellung entzieht, indem er seine Erinnerungen jeweils an die "Gegenwart des Schreibenden" verweist. In dieser konstituieren sich die Bilder und Intertexte immer wieder neu. Das Bild "von dem der sich erinnert" ist eines vom Erinnernden als Schreibenden, ein Bild nicht der Vergangenheit, sondern des Moments der Text-Produktion. Über Proust hinausgehend verweist Benjamin auf die radikale Jetztzeit der Schrift, die im autoreferentiellen Text sich selbst erinnert. Oder, um es mit Roland Barthes' Verweis auf Proust in "Le plaisir du texte" zu sagen: "Und eben das ist der Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben." Text als Gewebe bedeutet - noch einmal Barthes - "die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge." Diese Hyphologie bei Benjamin (über Proust) kommt Teschke leider nicht in den Blick. Ob der Einseitigkeit, Benjamin nur auf Proust, aber nicht umgekehrt, abzubilden, mag man sich grämen; zufrieden sein kann man aber in jedem Fall mit dem dicht und exzellent geschriebenen ersten Teil der Arbeit.

Kein Bild

Henning Teschke: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und Dialektisches Bild.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
176 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3826017676

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch