Ein unverbesserlicher Pessimist, der der Utopie treu blieb

Das Katalog-Buch zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Studiert hatte er planlos, wie er behauptete: Jura, Mathematik und Sozialwissenschaften; geliebt hatte er die Philosophie und die Literatur, besonders Shakespeare: "Wie kann man leben, ohne Shakespeare zu lesen?" Promoviert hatte er mit einer politikhistorischen Arbeit über Franz von Baader, seine philosophiegeschichtliche Habilitation über Hélvetius fiel der Machtergreifung der Nazis zum Opfer. Bekannt wurde Leo Löwenthal, der am 3. November 1900 als Sohn eines jüdischen Arztes in Frankfurt am Main geboren wurde, durch seine soziologischen Studien zur Massenkultur des 20. Jahrhunderts, zum bürgerlichen Bewusstsein in der Literatur vom 16. bis 19. Jahrhundert, zum Antisemitismus und zur autoritären Ideologie überhaupt. Seit 1926 gehörte er zum engeren Kreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, deren "Zeitschrift für Sozialforschung" er von 1932 bis 1949 redigierte. Das Institut war 1933 emigriert, seit 1934 befand es sich in den USA, aus denen Löwenthal wie Marcuse, anders als Horkheimer und Adorno nicht mehr bzw. nur noch besuchsweise zurückkehrte.

Während des Kriegs arbeitete Löwenthal außerdem für das Office of War Information, danach als Direktor der Forschungsabteilung bei der Voice of America, später als Mitarbeiter am Center for Advanced Studies in the Behaviorial Sciences in Stanford. 1956 bis 1968 lehrte er als Ordinarius für Soziologie an der University of California in Berkeley. Eigentlich erst nach seiner Emeritierung avancierte Löwenthal in seinem Herkunftsland Deutschland, nachdem sein 1937 erstmals publizierter, grundlegender Aufsatz "Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur" 1971 unter dem präziseren Titel "Das gesellschaftliche Bewußtsein in der Literaturwissenschaft" zusammen mit anderen Arbeiten wieder veröffentlicht worden war, zur grauen Eminenz der Literatursoziologie.

Die wichtigsten seiner Bücher und Aufsätze sind in den "Schriften" zusammengefasst, darunter auch - der Mann schrieb, je älter er wurde, desto besser - die fulminanten Aufsätze aus den 1980er Jahren ("Goethe und die falsche Subjektivität", "Literatursoziologie im Rückblick", "Die erste Szene in Shakespeares 'Sturm'", "Calibans Erbe"), die als Einführung sowohl in das Œuvre von Löwenthal als auch in das negativ-dialektische Denken der sogenannten Frankfurter Schule überhaupt wärmstens ans Herz gelegt seien. Löwenthal war ein begnadeter Lehrer, was sich insbesondere in seinen späten Arbeiten auch noch in der Lektüre nachempfinden lässt.

Wer an dem intellektuellen Werdegang Löwenthals interessiert ist und seine Arbeitsschwerpunkte kennen lernen will, dem sei - neben dem 1980 unter dem Titel "Mitmachen wollte ich nie" publizierten autobiografischen Gespräch mit Helmut Dubiel - der vorliegende Dokumentationsband zu der Ausstellung "Das Utopische soll Funken schlagen" empfohlen. Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Leo Löwenthal, der am 21. Januar 1993 in Berkeley starb, wurde mit ausgewählten Stücken aus dem inzwischen in Frankfurt/Main beheimateten Nachlass Werk und Wirkung dieses außergewöhnlichen Wissenschaftlers präsentiert. Einige vordem noch nicht veröffentlichte Manu- und Typoskripte und Fotografien sind hier abgedruckt. Sie werden ergänzt durch Beiträge von Peter-Erwin Jansen, Helmut Dubiel, Rachel Heuberger, Udo Göttlich und Richard Wolin, die Löwenthals Denken kontextualisieren, sowie Jochen Stollbergs Vorstellung des Löwenthal-Archivs und eine Bibliographie von Alessandra Sorbello Staub.

Vor allem biografisch aufschlussreich sind einige Dokumente aus Löwenthals jungen Jahren, die Einblick gewähren in die Genese widerständigen Denkens unter den Bedingungen der Weimarer Republik. Aufregender dagegen sind zwei Erstveröffentlichungen in diesem Band: Erstens ein langer Brief an Herbert Marcuse vom 29. Juni 1943, in dem Löwenthal darüber reflektierte, "was die Juden zum (fast einzigartigen) Sündenbock, zum Ersatzziel" für die Faschisten prädestinierte, wobei er das Verhältnis zwischen den "Juden als einer realen gesellschaftlichen Gruppe und den Juden als ein Symbol" unter der Perspektive seiner "langen Beschäftigung mit der besonderen historischen Funktion der Juden im Rahmen der kapitalistischen Entwicklung" zu theoretisieren versuchte; und zweitens sein provozierend gemeinter, vielleicht heute eher noch als vor 16 Jahren provozierender Entwurf einer "Rede über Deutschland", die er 1985 in München halten sollte, aber krankheitshalber nicht hielt, und die ihren Ausgangspunkt von dem "erstaunlichen" Gefühl nahm, dass er sich nach 50 Jahren 'Emigration' bei einem längeren Aufenthalt in Berlin Mitte der 1980er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland "zugleich befremdet und zu Hause fühlte".

Was Löwenthal an dieser doppelten Empfindung "beunruhigte", war die Dichotomisierung der von ihm bereits damals ironisch markierten "'nationalen' Frage" in eine öffentliche und private Diskursform, deren Zusammenhang nicht mehr reflektiert würde. Ihn störte das "Sich-Öffentlich-Wichtignehmen" in der Bundesrepublik, das er als eine Art "Risorgimento-Gefühl mit einem Sich-Herausdefinieren aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang" beschrieb. Vielleicht unterschätzte Löwenthal vor 15 Jahren noch die Gewalt des "Risorgimento-Gefühls", das gegenwärtig als 'Sich-Hineindefinieren' fröhliche Urständ feiert. Der sogenannten Wiedervereinigung stand er damals höchst skeptisch gegenüber. Er nannte deren Art und Weise "obszön" und erwartete sich nicht viel Gutes davon, wie er überhaupt annahm, dass alles noch schlimmer werden würde.

Die Hoffnung, dass es irgendwann einmal anders werden würde, gab er gleichwohl nie auf. Löwenthal beschrieb sich als "unverbesserlichen Pessimisten, der zugleich einen unauslöschlichen Funken utopischer Erwartung" bewahrte; und diese Option für Besucher und Leser offen gehalten zu haben, ist ein Verdienst der Ausstellung wie des Begleitbands gleichermaßen.

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Peter-Erwin Jansen: Das Utopische soll Funken schlagen. Zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2000.
200 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3465031172

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