Hanebüchene Libretti, spektakuläre Kompositionen

Musik-Konzepte zu Verdi

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band Musik-Konzepte 10 zu Giusepppe Verdi stammt aus der Edition Text + Kritik und präsentiert Aufsätze zu unterschiedlichen ästhetischen und kompositionstechnischen Aspekten des Verdischen Werkes. Am interessantesten ist die deutsche Übersetzung von Luigi Dallapiccolas Vortrag aus dem Jahr 1965 "Worte und Musik im Melodramma". Hier stellt er Verdi als Komponisten des Risorgimento vor und das Melodrama als literarische Form der Epoche, das aber nur von Verdis Musik zu wahrem Leben erweckt wurde. Am Beispiel verschiedener Opern erläutert Dallapiccola, wie Verdi dies bewerkstelligte und wie das Publikum, trotz teilweise hanebüchener Libretti, die Botschaft der Opern ohne weiteres entschlüsselte. Dallapiccola plädiert gegen eine Modernisierung der Operntexte, weil es in den Werken durchaus eine Einheit von Musik und Text gebe und Verdis Musik am Ende immer über die Libretti triumphiere, die die "absurde Situation, die groteske Sprache, die hinkende Syntax (und) das Pathos des Formelstils" besiegt.

Leo Karl Gerhartz Beitrag "Spiele, die Träumen vom Menschen nachhängen... Das dramaturgische Vokabular des Verdischen Operntyps, entschlüsselt am ,Prologo' des ,Simone Boccanegra'" baut auf Dallapiccolas Erkenntnissen auf, und Hubert Struppner diskutiert in dem Aufsatz ",La Traviata' oder: die sinnliche Aufdringlichkeit von Musik" das Verhältnis von Libretto und Musik mit psychoanalytisch geschulter Begrifflichkeit.

Hervorragend ist Attila Csampais Beitrag über ",Aida' - Ende aller Utopie" und die Frage, weshalb es Verdis spektakulärster Oper an antizipatorischen und utopischen Momenten fehlt. Geradezu idealtypisch seien in "Aida" alle Wesensmerkmale der bürgerlichen Oper ausgeführt. Aber das Werk genügt sich selbst, so Csampai, es gibt keine verborgenen Dimensionen und keine dramatischen Entwicklungen. Die Charaktere seien auf eine für Verdi eher untypische Weise kraft- und konturlos, dafür antizipiere "Aida" den Monumentalfilm Hollywoodscher Prägung. "Aida" ist eine fatalistische und resignative Oper, sagt Csampai, in der das Umschlagen der ursprünglich freiheitlichen Idee des Nationalstaates in chauvinistisch-reaktionäre Ideologie demonstriert wird. Dieser kritische Impuls gehe allerdings angesichts der Faszination des Monumentalen und Exotischen weitgehend unter.

Dieter Schnebels Beitrag "Die schwierige Wahrheit des Lebens - zu Verdis musikalischem Realismus" ist der längste Beitrag des Heftes und mit 64 Seiten so lang wie die anderen drei zusammen. Der Autor beginnt mit einer Gegenüberstellung von Szenen aus Wagners "Rheingold" und Verdis "Rigoletto", "Tristan" und "Maskenball", den "Meistersingern" und "Don Carlos", um überzeugend Gemeinsamkeiten im Werk der großen Antagonisten zu konstatieren, die teilweise aus allgemeinen Musikklima der Zeit resultieren, aber auch von mehr oder weniger bewussten Übernahmen verursacht werden. Schnebel porträtiert Verdi als Musikdramatiker, der sich gerade bei den Opern der frühen und mittleren Jahre intensiv um Inszenierung und Bühnenbild kümmerte, so dass auch bei seinem Opern von einem Gesamtkunstwerk zu sprechen sei.

Die Unterschiede zwischen Wagner und Verdi sind jedoch stärker als die Gemeinsamkeiten, dies muss auch Schnebel einräumen. Verdis Musik sei melodisch-rhythmisch, Wagners harmonisch-dynamisch; während in den Werken des Deutschen die Stimme der Solisten in die musikalische Gesamtheit eingewoben ist und seine Charaktere Typen bzw. Archetypen sind, steht in Verdis Opern die menschliche Stimme im Vordergrund, so Schnebel, der zudem darauf verweist, dass sich Verdis Charaktere entwickeln und zudem eine gewisse Plausibilität haben. Wo immer seine Libretti angesiedelt sind, die Charaktere leben in der zeitgenössischen Gegenwart, sind Menschen in wirklichen und wiedererkennbaren sozialen Situationen. Realismus nennt der Autor dies und analysiert dessen Ausprägung in verschiedenen Werken. Über die Opern der "Galeerenjahre" hat Schnebel wenig Neues zu sagen, tut das aber in großer Ausführlichkeit. Interessant ist, dass er - anders als die Verdi-Forschung allgemein - nicht in den Opern dieser Jahre die politischen Aspekte heraushebt, sondern in den Opern der "Trilogia populare", in "Rigoletto", "Troubadour" und "La Traviata", die sonst oft als relativ unpolitisch gedeutet werden. Die Libretti dieser Opern, denen sich Verdi aus antibürgerlichen und gesellschaftskritischen Motiven zugewandt hätte, bieten gefährliche Stoffe und zeigten beschädigte Charaktere, die erstmals in ungewöhnlicher Intensität und Differenzierung dargestellt würden. Die Oper "Don Carlos" sei im Vergleich dazu zwar kritisch, aber politisch ausgesprochen resignativ. "Don Carlos" ist nicht nur das längste, sondern auch das musikalisch und dramatisch reichste Werk Verdis. Auch zum Spätwerk Verdis hat der Autor noch Bemerkenswertes zu sagen, seine Realismusthese verliert er dabei jedoch aus den Augen.

Schnebels Ausführungen sind oft überzeugend, werden allerdings immer wieder dadurch geschwächt, dass er die Analyse mit langatmigen biographischen Informationen vermischt, die für seine Argumentation nicht unbedingt relevant und manchmal nicht auf dem neusten wissenschaftlichen Stand sind. Fortgeschrittenen Verdi-Freunden bietet das Musik-Konzepte Heft interessante und für manche sicherlich auch provokante Lektüre, musikologischen Laien ist es wegen der durchgängig gebrauchten Fachterminologie nur bedingt zu empfehlen.

Titelbild

Heinz-Klaus Metzger / Rainer Riehn (Hg.): Giuseppe Verdi. Musik-Konzepte 10.
edition text & kritik, München 2001.
127 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3883776610

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