Zwischen Reproduktion und Produktion

Dieter Martin untersucht die Bearbeitung und Aneignung deutscher Barockliteratur um 1800

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Barock steht der Topos der Vergänglichkeit, der Vanitas an zentraler Stelle. Das menschliche Leben, irdische Schönheit und soziales Prestige sind von kurzer Dauer und relativ. Die künstlerisch bevorzugte Gestalt für diese melancholische Grunderfahrung ist bekanntermaßen die Allegorie. In der neueren Forschungsliteratur ist wiederholt darauf verwiesen worden, dass in der modernen und postmodernen Kunst und Philosophie dem Barock vergleichbare grundsätzliche Zweifel an der Zuverlässigkeit menschlicher Erkenntnis und am Erfolg menschlichen Handelns artikuliert werden, und auch sie bevorzugen die Allegorie als künstlerische Darstellungsform. Ein Zwischenglied zwischen Barock und Postmoderne bildet Walter Benjamins Analyse des 19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert zitiert, wie Benjamin betont, die Antike vor dem Hintergrund der im 17. Jahrhundert in Gang gesetzten antagonistischen und somit selbstzerstörerisch wirkenden gesellschaftlichen Kräfte. Zerstückelung und Orientierungslosigkeit sind nicht nur künstlerische Themen der barocken Kunst, sondern bilden ihre geistige Disposition. Benjamin hat am Labyrinth und an der Ruine gezeigt, dass das 19. Jahrhundert den Barock nicht nur mit diesen Topoi, sondern auch dieser geistigen Disposition nach zitiert.

Gleichzeitig fehlte es bislang an umfangreicheren Untersuchungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hätten, den Formen und Funktionen einer Bearbeitung und Aneignung deutscher Barockliteratur in philosophischen und literarischen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts nachzuspüren. Diese Forschungslücke ist nun zum Teil geschlossen. Dieter Martin hat in seiner Freiburger Habilitationsschrift die reproduktive und produktive Rezeption deutschsprachiger Barockdichtung von der Spätaufklärung bis zur Biedermeierzeit ausführlich beschrieben. Diese Studie betritt auch dort Neuland, wo sie sich von bisherigen Arbeiten absetzt, die sich zumeist auf die romantische Aneignung älterer Dichtungen konzentriert haben. Quellenmäßig auf breiterer Basis gelingt es Martin, Kontinuitäten und Brüche in der Barockrezeption nachzuzeichnen, um generationsspezifische Rezeptionsinteressen freizulegen. Mit dieser empirischen und funktionsgeschichtlichen Akzentuierung geht die Arbeit konzeptionell und gegenständlich über bisher vorliegende Forschungen zur Barockrezeption hinaus, zumal sich deren Fragestellungen und Methoden im wesentlichen, wie Martin zurecht betont, zwei Gruppen zuordnen lassen: zum einen Studien, die sich eher wertungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten verschrieben haben und zum anderen Monographien und Aufsätzen, die jeweils einem rezipierten oder rezipierenden Autor gelten. Gemeinsam ist diesen Arbeiten vor allem, dass sie im wesentlichen Begriffsgeschichte fundieren und den Zusammenhang von "Nationalbildung und Nationalliteratur" untersuchen, die poetische Literatur als Gegenstand und Medium der Rezeption aber nahezu ausklammern. In diesem Zusammenhang verweist Martin darauf, dass die Frage, welche Dichtungen des Barock wie überliefert und mit welchen Interessen gelesen worden sind, ebenso außer acht bleibe wie die "rezeptionssteuernde Funktion editorisch-bearbeitender Reproduktionen und das weite Feld produktiver Barockrezeption in der schönen Literatur." Dieses Defizit sucht der Verfasser dadurch zu beheben, dass er in seiner Studie neuere Ansätze der sozialgeschichtlich-empirischen Rezeptionsforschung mit älteren Konzepten der Quellen- und Wirkungsforschung verbindet, von denen sich die Rezeptionstheorie der 1970er Jahre (Link, Grimm, Reese) distanzierte.

Zwei weitere Neuerungen zeichnen Martins Ansatz aus: Erstens verbreitert er die bisherige Quellenbasis erheblich und vergrößert damit den Untersuchungsgegenstand personell wie chronologisch vom "romantischen Zentrum" aus. Das hat zur Folge, dass von der 'Sattelzeit' um 1800 aus jeweils eine Generation in die Spätaufklärung zurück- und eine Generation in die Biedermeierzeit vorausgeblickt werden kann. Damit kommt der Zeitraum von 1770 bis 1830 in den Blick, der nicht nur groß genug ist, "um Rezeptionsabschnitte signifikant unterscheiden und Parallelen zwischen national- und literarhistorischen Prozessen erkennen zu können", sondern auch den Blick auf eine Entwicklung gestattet, die "vom Ende einer 'primären Rezeptionszeit', der die Generation Gottscheds und Bodmers noch angehört, bis zum Einsetzen einer frühen philologischen Barockforschung und -editorik" reicht. Zweitens konzipiert Martin ein heuristisches Modell, das der neu erschlossenen Materialfülle angemessen ist, diachrone wie systematische, gattungs- wie autorspezifische Aspekte berücksichtigt und schließlich auch der (re-)produktiven Barockrezeption gleichermaßen gerecht wird. Folglich kommt der Verfasser zu dem plausiblen Ergebnis, dass sich "Eigenart und Entwicklung der Barockrezeption um 1800" am besten dann umfassend darstellen lassen, wenn man "die Zugriffe der Intertextualitätsforschung textanalytisch und philologisch nutzbar macht, übergeordnet nach rezeptionstypologischen Gesichtspunkten klassifiziert und in dieses Gerüst speziellere Längs- wie Querschnitte zu einzelnen Rezeptionsphänomenen, Textgruppen und Autoren einschreibt". Zu bemängeln ist jedoch, dass Martins Rekurs auf die Intertextualitätstheorie insgesamt zu unreflektiert bleibt. In diesem Zusammenhang wäre daran zu erinnern, dass die sich in den 1980er Jahren methodisch so ambitioniert gebende und sich zugleich etablierende Intertextualitätstheorie gerade das, was sie mit der Dezentrierung des Autor-Subjekts durchaus überzeugend in Aussicht stellt, nämlich den Texten in ihrer von der Intention des Autors unabhängigen Eigenheit gerechter zu werden, nicht selten selbst konterkariert. Produktiver ist es in jedem Fall einen Intertextualitätsbegriff derart zu bestimmen, dass Texte allgemein und im besonderen literarische Texte als Teil kommunikativen Handelns erfasst werden können. Auch wenn Martin vermutet, dass es seinem Projekt wenig förderlich gewesen wäre, "dem nicht-intentionalen 'Gemurmel der Diskurse im globalen Intertext' zu lauschen", hätte eine solidere theoretische Unterfütterung seinem ansonsten plausiblen Ansatz durchaus gut zu Gesicht gestanden. Der antizipierte Vorwurf, seine Arbeit werde sich wohl vorwerfen lassen müssen, "zu einem Rückfall in die traditionelle Quellenforschung" zu tendieren und "Intertextualität so zu reduzieren, daß nur die [...] im Text selbst nachweisbare intertextuelle Relation als solche berücksichtigt wird" (Susanne Holthuis) ist an manchen Stellen in der Tat nicht von der Hand zu weisen.

Konkret wird die Materialfülle, die manchmal auch eine Last ist, in drei Teilen systematisch dargestellt und exemplarisch interpretiert, wobei das oberste Klassifikationskriterium die ",Distanz' zwischen rezipierten barocken Ausgangstexten und rezipierenden Zieltexten" ist. Diese "Skalierung der Intertextualität" wird für die Studie hinsichtlich der Kriterien der "Referentialität" (markierte oder nicht markierte Intertextualität), der "Kommunikativität" ("Grad der Bewußtheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten" (Pfister)) und besonders der "Strukturalität" fruchtbar gemacht. Erstens zeigt die Untersuchung von Überlieferung, Verbreitung und editorischer Bearbeitung barocker Dichtungen, wie deren Fremdheit im 19. Jahrhundert sukzessive an Reiz gewann. Dazu war es für Martin jedoch zunächst vonnöten, nach der Zugänglichkeit der älteren Texte zu fragen und umrisshaft die Textbasis zu rekonstruieren, mittels derer eine inhomogene Leserschaft tatsächlich Kenntnisse deutscher Barockdichtung erworben hat, wobei er strikt trennt zwischen dem Rückgriff auf 'originale' Drucke und der Neuedition barocker Texte. Die Rezeption dieser Texte ist also wesentlich von dem Ausmaß bestimmt, in dem "die alten Drucke noch greifbar sind und in dem die in ihnen bewahrten Texte wieder allgemeiner zugänglich gemacht werden". Martin gelingt es anschaulich zu zeigen, dass diese Neuedition barocker Texte nicht nur ein mögliches Resultat individueller Lektüre eines alten Drucks darstelle, sondern zugleich der neuerlichen Rezeption barocker Literatur vorangehe, die sie durch selektive Eingriffe maßgeblich prägt. "Im Neudruck werden eigene Leseerfahrungen in editorischer Form mitgeteilt, um das Publikum zur Lektüre ihm mutmaßlich sonst unzugänglicher Werke anzuregen, um neues Interesse an der eigenen Nationalliteratur zu wecken und dieses zugleich zu bedienen."

Der zweite Teil behandelt Rezeptionsphänomene, die zwischen Bearbeitung und Eigenproduktion anzusiedeln sind. Außerliterarische Faktoren wie etwa kulturkämpferische Motive werden dabei ebenso ermittelt wie ein zunehmendes ästhetisches Interesse an antiklassizistischen Tendenzen barocker Literatur und Poetik. "Um Forschungsdefizite auszugleichen, textnahe komparative Einzelanalysen zu ermöglichen und national-patriotische wie literarästhetische Aspekte der Barockrezeption nebeneinander zu erörtern", kapriziert sich die Studie auf zwei ganz unterschiedliche Autoren, deren Wirkungsgeschichte bislang nur äußerst lückenhaft erforscht ist, auf die satirische Prosa Johann Michael Moscheroschs und Andreas Gryphius' Dramen. An diesen beiden Beispielen zeigt Martin, wie weitgefächert die Skala von der editorischen zur eigenständigen, von der rezeptionsästhetisch zur produktionsästhetisch orientierten Bearbeitung ist. Martins Problematisierung der Grenzen seines Ansatzes, die er darin sieht, dass das Corpus der ausgewählten Texte und Autoren "weniger dem aktuellen vielschichtigen Bild von der Literatur des 17. Jahrhunderts als dem Kanon barocker Dichtung [entspricht], der sich im frühen und mittleren 19. Jahrhundert nach und nach formierte, um dann bis in die innovative Phase der jüngeren Barockforschung relativ stabil zu bleiben", ist zwar aller Ehren wert, gleichwohl doch auch nicht zutreffend. Seine Studie belegt vielmehr, dass es von Vorteil sein kann, in den exemplarischen Analysen barocker Literatur von einem relativ homogenen Corpus poetischer Texte auszugehen, das trennscharf nach Gattungen, Formen und Stilphänomenen unterscheidet, um ein möglichst breites und nuanciertes Bild des Untersuchungsgegenstandes zu bieten.

Der dritte Teil würdigt die "kreative Rezeption" barocker Dichtung. Im Mittelpunkt stehen Studien zur Imitation barocker Personalstile, zur Adaption barocker Stilmuster und zur Poetisierung barocker Dichtergestalten, die ein Einblick gewähren, wie sich im Rückgriff auf eine verschüttete oder verpönte nationalliterarische Tradition produktives poetisches wie poesiologisches Potential entfaltet. Erstens zeigt Martin an der produktiven Rezeption von Heinrich Anshelm von Zieglers "Asiatischer Banise" und Abraham a Sancta Claras Schriften auf, wie sich "die oft noch zitathafte Adaption eines Einzelwerks" und "die Imitation eines Personalstils zum freien Verfügen über eine archaisierende Manier verselbständigen". Das zweite Kapitel ("Barockisierende Lyrik") geht vom konkreten intertextuellen Bezug auf einzelne Gedichte des 17. Jahrhunderts aus, um sich der Wiederbelebung barocker Gedichtmodelle und Metaphernfelder in der Spätromantik zuzuwenden. Abschließend werden poetisierte Dichterlegenden und Gedichte auf barocke Dichter (Paul Gerhard und Paul Fleming) vorgestellt.

Dieter Martin ist es in seiner akribischen und kenntnisreichen Arbeit gut gelungen, die Barockrezeption von 1770 bis 1830 erstmals in angemessener Breite zu analysieren und in ihrer Vernetzung mit poesiologischen Aspekten der Zeit 'um 1800' darzustellen. Dennoch sei nicht verhehlt, dass die theoretische Fundierung der Arbeit, wie z. T. bereits oben im Zusammenhang mit dem Rückgriff auf Theoreme der Intertextualitätsdebatte erwähnt, an manchen Stellen zu wünschen übrig lässt. Ein Beispiel sei kurz erwähnt. Das Buch trägt im Titel stolz das Datum 'um 1800' zur Schau, ohne dass diese vage Zeitangabe als Problemfigur im Verlauf der Arbeit - sieht man von der wenig hilfreichen Qualifizierung als 'Sattelzeit' und dem nicht weiter reflektierten Bezug auf die Spätaufklärung und die Biedermeierzeit einmal ab - hinreichend begründet würde. Damit beraubt sich die Arbeit der Möglichkeit, die profunden Ergebnisse zur Sondierung eines im Entstehen begriffenen kulturwissenschaftlichen Arbeitsgebietes einzusetzen. Das 18. Jahrhundert hat erst an seinem Ende mit dem Entwurf einer Frage begonnen, die ein ebenso markantes wie mehrdeutiges Datum erzeugt und das Werden eines Zeitalters vom Augenblick seines Gewordenseins trennt. "Wo stehn wir?", fragte Wilhelm von Humboldt 1796/97 in seinem Rückblick auf "Das achtzehnte Jahrhundert", "welchen Theil ihres langen und mühevollen Weges hat die Menschheit zurückgelegt? Befindet sie sich in der Richtung, welche zum letzten Ziel hinführt? Und wie weit ist es ihr gelungen, in dieser Richtung fortzuschreiten?" Die Vergangenheit wird in der Aktualität ihres Vergehens wahrgenommen, und das Wissen des 18. Jahrhunderts ist offenbar in der Perspektive Humboldts so organisiert, dass es an seinem Ende die Frage nach seinem Wissen selbst möglich gemacht hat. Der Augenblick 'um 1800' ist ein flüchtiges Anhalten zwischen den Epochen, an dem die Reflexion auf das Heute und die Charakteristik des eben vergangenen (als Vergangenes) einander bedingen. Vor diesem Hintergrund konnte Foucault behaupten, es gehe nicht wesentlich darum, irgendeine Erbschaft der 'Vergangenheit' zu retten, als vielmehr darum, jene Frage selbst, die Frage nach der Struktur und dem Wert der Vergangenheit gegenwärtig zu halten.

Aus dieser Perspektive ist das notorische 'um 1800' ein doppeltes und ambivalentes Datum, ein Datum, das unterschiedliche Zeit- und Ereignisgehalte umschließt. Es ist zunächst eine Markierung und eine Schwelle, die wie bei Humboldt eine jüngste Vergangenheit erzeugt und das ,18. Jahrhundert' als Raum eines spezifischen Wissens und Signatur einer Epoche hervortreten lässt. Und es ist zugleich ein Datum, das nicht aufhört, immer von neuem zu vergehen, mit dem Stand eines Wissens zugleich die Aktualität seiner Äußerung hervortreibt und immer wieder die Epochalität einer Epoche wiederholt. Die 'Sattelzeit' um 1800 steht also nicht nur für eine Transformation von Wissensformen, für eine konsequente Theoretisierung der Geschichte ein, sie etabliert zugleich eine Bewegung, die stets eine kontingente Konstitutionsweise aktueller Gegenwart erschließt. Hier wäre nicht nur die Brücke zu Benjamin und seiner Brücke vom Barock zur ästhetischen Moderne über das 19. Jahrhundert zu schlagen, die bei Martin keine Rolle spielt, sondern auch zu dem, was bei Martin eine glänzende Rolle spielt: die reproduktive und produktive Rezeption des Barock als 'Vergangenheit' und als Definiens der Gegenwart 'um 1800'.

Titelbild

Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830. Das Abendland N.F.; Band 26).
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2000.
702 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3465030397

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