Wahre Tortenschlacht - Vertreibung aus dem Kinderparadies

Eine Ost-Westfamiliengeschichte von Gabriele Weingartner

Von Kristina StockmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristina Stockmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

,,Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können". Anders als dieser Aphorismus von Robert Musil behauptet, behandelt der Nachkriegs- und Wenderoman von Gabriele Weingartner die Vertreibung des Protagonisten aus seiner paradiesischen Kindheitserinnerung. Aus der erinnernden Perspektive des Protagonisten Folke auf sein ,,jährlich wiedergewonnenes Paradies, das ihm Blindheit gewährte und eine angenehme "Unschuld",erzählt ,,Bleiweiss" die ernüchternde Aufklärung über die eigene Herkunftslüge. Schwarz auf weiß findet der Anti-Held im Altersheimschrank der Mutter eine Fährte, die ihn zur Spurensuche in den Osten treibt, nach Leewenstein, seinem einstigen Kinheitsparadies.

Nach nahezu kriminalistischem Strickmuster entwickelt der Roman spannend und unterhaltsam sein Geschehen vom Ausgangspunkt einer selbstvergessenen Naivität hin zur sehenden, schmerzhaften Erkenntnis der eigenen Wahrheit. Parallel zum politischen Wandel, dem Fall der Mauer, wird eine zweite Wende sichtbar: Mit der Auflösung der Grenzen hebt sich für Folke sukzessive der Schleier der Täuschung über die Vergangenheit. Eine verkehrte Welt tut sich auf, als Folke Jahrzehnte später die herrschaftliche Villa, das einstige Paradies seiner Kindheit, käuflich erwerben will und entdecken muss, dass es unwiederbringlich in der Erinnerung verloren ist. Ernst, der einst gedemütigte Humpler, wird zum Unglücksboten, dem Verkünder der Wahrheit über die eigentliche Herkunft Folkes. In einem Vergeltungsakt konfrontiert er in einem ,,Schwanengesang" den reichen Westler mit seiner wahren Vergangenheit: ,,Man kann die Wahrheit eben nicht wie ein Stück aus der Torte schneiden, man muß die ganze Torte schmeißen, damit sie trifft."

Hart trifft den Zurückkehrenden die Erkenntnis, ein "politischer Bastard", der Spross einer leidenschaftlichen Ost-West-Affäre zu sein, die sich ohne die besonderen Umstände des Kalten Krieges wohl nie ergeben hätte.

Das vermeintliche Paradies im Osten ist Leewenstein an der Müglitz. Dort findet der inzwischen schwäbisch beheimatete Familienteil bei Verwandten seine jährliche Saisonidylle. Die sinnliche Mutter Folkes, Lore, im Urlaub entfernt von ihrem an Parkinson erkrankten Ehemann Eugen", findet mit dem 17 Jahre jüngeren Streckenarbeiter Horst die sommerliche Erfüllung ihrer erotischen Sehnsüchte. Die unbeaufsichtigten Kinder erschließen sich ungewohnte Freiräume in der Natur.

Ein erstaunlich umfangreiches gesellschaftliches Panoptikum, das sich über vier Generationen erstreckt, bietet die familiäre Ahnengalerie des Personals. Die diversen Familienmitglieder verkörpern unterschiedliche Positionen gegenüber dem System und spiegeln differenziert den Umgang mit der Vergangenheit. So ziemlich alles ist vertreten: die reaktionär nazistische Großmutter, die, vom ,,arischen Bazillus" befallen, ihre Theorien über das ,,unwerte" Leben ungeniert weitergibt; die opiumsüchtige Großtante Sophie, die eine langjähriges spektakuläres Liebesverhältnis mit dem wesentlich jüngeren österreichischen Kronprinzen unterhielt; Lore, die begeistert dem Bund deutscher Mädel beitrat und Tante Dora, die als hundertfünfzigprozentige Vertreterin des Sozialismus noch heute dogmatisch ihre Parolen gegen Systemgegner vertritt. Im Rollenspiel der Enkel wird die Vergangenheit der Ahnen wiederbelebt. In den paradiesischen Sommermonaten prallen in Leewenstein Gegensätze nicht nur politischer Natur zusammen. Grenzüberschreitungen jeglicher Art finden statt. Frauen halten sich in der Wahl ihrer Liebhaber weder an politische, altersmäßige, standesmäßige noch geschlechtliche Grenzen. Traditionell erzählt und modern thematisiert - Grenzgänger der Leidenschaft überwinden hier ideologische Gegensätze. Einblicke in den alltäglichen Daseinskampf der Grenzwechsler, beispielsweise der gängigen Schmuggelgeschäfte, werden gewährt.

Nicht ohne ironischen Unterton erzählt die Autorin die Geschichte des Ost-West-Konfliktes, geschickt werden private und historische Lebenswelten miteinander verflochten. Unter Verzicht des moralischen Impetus wird das Leben der Generationen einfühlsam nachgezeichnet. In ausgesprochen präziser Sprache, belebt von der Sinnlichkeit der Bilder, kombiniert Weingartner ihre Familiengenealogie von den 30er bis 70er Jahren mit dem historischen Komplex einer Ost-West-Geschichte.

So bietet dieser stilistisch und inhaltlich so differenzierte Roman anhand der "Familiensaga" nicht nur ein Kultur- und Zeitkolorit des letzten Jahrhunderts, sondern behandelt darüber hinaus den Themenkomplex des Kalten Krieges auf höchstem Niveau.


Titelbild

Gabriele Weingartner: Bleiweiß.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
221 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3406466060

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