Konstruierter Lauf der Worte

Milan Kunderas Romanessay "Die Identität"

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viel passiert nicht in Milan Kunderas neuestem Roman Die Identität, außer vielleicht in der Imagination. Die Vorstellungskraft beherrscht das Handeln der Romanfiguren und den Fortgang der Erzählung. Aus der Banalität des zufriedenen Lebens erwachsen ihnen Gedanken über Störungen der Zufriedenheit, über den Tod des Geliebten, über die eigene Vergangenheit, die eigene Vergänglichkeit. Das Glück birgt in sich die Angst vor dem Unglück.

Eine Verwechslung steht am Anfang der Geschichte um Jean-Marc und Chantal: Er sucht sie am Strand, bis er eine ferne Gestalt sieht und glaubt, sie gefunden zu haben. "Während er sich ihr (...) näherte, wurde diese Frau, von der er geglaubt hatte, sie sei Chantal, alt, häßlich und lächerlich anders." In dieser harmlosen Verwechslung liegt bereits das Grundthema von Kunderas Roman, der sich mitunter wie ein erzählerisch ausformulierter Essay liest, was man von Kundera ja bereits gewohnt ist. Alle der folgenden Begebenheiten kreisen um das zwangsläufige Mißverstehen, das zwischen zwei Menschen herrscht, gerade zwischen solchen, die sich lieben. Hinter dem Mißverstehen aber steht die Frage nach der wahren Identität. Der Titel ist also als Programm Denkens anzusehen.

Mit dem ihm eigenen Gespür für psychologische Beobachtungen beschreibt Kundera die Kluft, die zwischen den Sätzen liegt, die wir sprechen, und den inneren Vorgängen, die diese Sätze begleiten: den Vorbereitungen, die den Sätzen vorauseilen, und dem Grübeln über ihren Sinn, ein Grübeln, das doch nur falsche Schlüsse nach sich zieht.

So führt zum Beispiel der Satz Chantals: "Die Männer drehen sich nicht mehr nach mir um" zu einer Reihe von Mißverständnissen, die ihren Freund schließlich sogar dazu bringen, einen Verehrer zu erfinden, in dessen Rolle er gleich selbst schlüpft, der Chantal aus der Ferne liebt, sehnsüchtige Briefe schreibend. Aber warum schreibt er diese Briefe? Und was macht sie mit ihnen? Und überwacht er, was sie mit ihnen macht? Der Versuch, die Handlungen und Motivationen des jeweils anderen zu durchschauen, drängt die beiden immer weiter auseinander.

So weit, so gut. Nun ist das mit den erzählerisch gestalteten Essays natürlich so eine Sache. Das reflektierte Erzählen, das immer wieder die erzählte Handlung als Anlaß nimmt, um abzuschweifen, aus den beschriebenen Begebenheiten allgemeine Überlegungen abzuleiten und so den Leser gleichzeitig zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen, diese Kunst des Schreibens hat Kundera zu einem erfolgreichen und beachteten Autor gemacht. Immer wieder beschrieb er mit einfachen Worten komplizierte zwischenmenschliche Verhältnisse, und hinter den unerträglich leichten Begebenheiten schien eine tiefere Tragik hindurch.

Einen nicht geringen Teil dieser Tragik bezog Kundera sicherlich aus seinem persönlichen Schicksal einerseits als Dissident, andererseits als Exilant. Es ist billig, ihm vorzuwerfen, daß er nun, da er ein berühmter Schriftsteller ist und alles sagen kann, was er will und gehen kann, wohin er will, daß er uns nun nichts mehr mitzuteilen habe. Denn er hat uns noch immer einiges zu sagen und er tut es nach wie vor mit dem nachdenklich ironischen Stil eines großen Erzählers. Aber zwischen den Passagen, in denen der kunstvolle Lauf der Worte fesselt, sieht man den Schriftsteller, dem sich die Themen nicht mehr aufdrängen, sondern der sie suchen muß. Der nicht mehr kunstvoll zusammenfügt, sondern konstruiert. Immer noch mit großem Können, aber manchmal ist ein tragender Balken zu erkennen, und dann wird sichtbar, wie der Text funktionieren soll.

Vor allem den Schluß mag man Kundera nicht abnehmen, der mit einem leicht gemeinten, jedoch bemüht wirkenden Dreh die zunehmenden, ins Surreale abgleitenden Verwirrungen glätten soll.

Ein schönes Buch sicherlich, eine angenehm melancholische Lektüre für ein paar Stunden. Und ein Buch, das uns dazu anregt, wieder einmal nach seinen alten Meisterwerken zu greifen.

Milan Kundera: Die Identität. Aus dem Französischen von Uli Aumüller.

München: Hanser 1998.

163 Seiten, 29,80 DM

(c) bei der Autorin / beim Autor / literaturkritik.de 1/1999

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Titelbild

Milan Kundera: Die Identität.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1997.
163 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446194908

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