Trotzdem ist die Welt schön

Einar Már Gudmundssons Familiensaga "Fußspuren am Himmel"

Von Jan ChristophersenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Christophersen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert auf Island: Ein kleines Mädchen steht am Rand eines Weges und an ihr vorbeigezogen kommt eine Karawane mit vier Pferden; ein Mann, eine Frau und vier Kinder sitzen darauf. Keiner von ihnen grüßt das winkende Mädchen. Das Mädchen heißt Gudny und ist die Großmutter des Erzählers. Ihre Mutter erklärt ihr, dass dies ein Gemeindeumzug und diese Familie so arm sei, dass sie nicht für sich und ihren Lebensunterhalt sorgen könne. Deshalb müssen die Kinder an Bauern gegeben werden, wo es ihnen jedoch nicht besser ergeht; ein Junge kommt sogar nach Misshandlungen ums Leben. Lapidar heißt es dazu: "Der Bauer wurde verurteilt, und die Familie zog nach Amerika, wo sie im Meer der Völker verschwand."

So setzt Einar Már Gudmundssons Roman um Gudny und ihre Familie ein, und man wird nicht lange im Ungewissen darüber gelassen, dass es ihnen in der Zukunft nicht anders ergehen wird. Gudnys Mann etwa, ein Fischer und heilloser Säufer, trinkt sich langsam aber sicher um den Verstand, verliert durch Billigfusel aus der Apotheke gar das Augenlicht und stirbt an Tuberkulose im Epidemiehospital. Einige der zehn Kinder, die mit den Eltern in einem Kellerloch in Reykjavík hausen, müssen zu besser gestellten Pflegefamilien gegeben werden, derweil Gudny für wenig Geld in einer Fischfabrik arbeitet. Ihr Glück besteht darin, sich trotz allem Leid und Dreck, in dem sie lebt, ständig die Haare zu bürsten, die Nationaltracht zu tragen und starken Kaffee zu trinken, den sie "Lebensgras" nennt. Es geht ihr nicht gut, aber "man braucht immer weniger, als einem fehlt", sagt sie.

Es liegt eine Menge Trotz in diesem Satz und der Wille, sich nicht alles kaputtmachen zu lassen, seien die Bedingungen auch noch so hart. Was nicht zu Schanden kommen darf, das ist das alte, aber nie ersetzbare Dreigestirn: Glaube, Liebe, Hoffnung. "Trotzdem ist die Welt schön", steht an einer Stelle. "Sie gibt uns Versprechen in der Nachtdämmerung und erfüllt ihre Versprechen: unter der Sternenpracht des Himmels, in der wachsenden Menge der Häuser, in der Stadt, die sich mit Bergen und Meer schmückt."

Aber was sind das für Versprechen? Es sind einmal die Momente des Glücks, wenn zum Beispiel der Mann von der Sozialfürsorge kommt und gut gemeinte Hilfe anbietet. Zum anderen ist es der Glaube an solch eine diffuse Sache wie den Fortschritt. Gudmundsson macht in dieser Familiensaga erfahrbar, aus wie vielen kleinen, unsicheren Schritten dieser Fortschritt besteht. Und er erzählt zugleich davon, auf welche Art sich das abgelegene Island um die letzte Jahrhundertwende verändert hat.

Die großen, alles umwälzenden Ideen vom Nationalismus bis hin zum Kommunismus erfassen zu dieser Zeit auch die Insel. Dort wehren sich die einen natürlich nach Kräften, während die anderen alles Neue begierig aufschnappen und ebenso nach Kräften umzusetzen suchen. Ist es zuerst die Landflucht, die als "Stadtfieber" verteufelt wird, dann eine aufkeimende Arbeiterbewegung, die verrückterweise bessere Löhne bei kürzerer Arbeitszeit fordert, stehen am Ende die revolutionären Umtriebe der Kommunistischen Partei Islands. Alles spiegelt sich in den Schicksalen der Familie und ihrer näheren Umgebung, in der beispielsweise ein Freund seinen Sohn zwar nicht Stalin nennen darf, dafür aber Stanley tauft. Und Ragnar, ein Sohn Gudnys, wird als einer der ersten Isländer in den Bürgerkrieg nach Spanien ziehen, um dort gegen Franco zu kämpfen. Seine Mutter lässt ihn zwar nur ungern, aber in ihrer unbeirrbaren Schicksalsgläubigkeit dennoch fahren.

Dies wird nie langweilig oder bloß theoretisch abgehandelt, sondern immer durch Geschichten vermittelt. Naturgemäß ist das ein anderer Blick als der, den man aus dem Geschichtsunterricht kennt. Die Unsicherheiten, die Selbstzweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges, geraten so ebenfalls in den Blickpunkt wie die Erfolge.

Es wundert daher nicht, wenn dieser Roman in Island zum meistverkauften Buch der letzten zehn Jahre wurde. Er ist voller lyrischer Bilder, er hat etwas zu erzählen und er tut dies in ständigem Wechsel zwischen Melancholie und Lakonie, Pathos und Komik. Das ist wunderbar gemacht.

Titelbild

Einar Már Gudmundsson: Fußspuren am Himmel. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Angelika Gundlach.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
240 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446200517

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