Brennpunkt Berlin

Rajan Autze über Fluchtbewegungen, eine Stadt in Trümmern und die Situation der Heimatvertriebenen

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berlin im Frühjahr 1945 - ein 'Ground Zero' der anderen Art. Die Stadt liegt in Trümmern. Über ein Drittel der Wohnungen ist vollkommen zerstört, Strom- und Wasserversorgung sind zusammengebrochen. Aber in den Ostgebieten ist die Lage spätestens nach dem Angriff der Roten Armee noch schwieriger. In großen Teilen Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens setzt eine dramatische Massenflucht ein, gut eine Million entwurzelter und vertriebener Menschen zieht es, kaum mit dem Nötigsten versehen, in die verwüstete Reichshauptstadt, der bei der Versorgung der Heimatlosen schnell eine herausragende Rolle zufällt. Aber nicht nur das macht das Berlin von 1945 zum größten 'boiling point' der jüngeren Geschichte: Neben den Flüchtigen bevölkern evakuierte und jetzt zurückkehrende Berliner, ehemalige Kriegsgefangene, befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus allen Teilen Europas die Straßen und Ruinen der Metropole.

Rajan Autze hat Flüchtlinge und Vertriebene interviewt und das eindringliche Bild einer Stadt gezeichnet, die buchstäblich aus allen Nähten platzt und in der ein harter Überlebenskampf beginnt: Das Schlafen auf den nackten Böden der provisorisch errichteten Auffanglager, die notdürftigen Essensrationen, Umtauschaktionen auf dem Schwarzmarkt, Gelegenheitsarbeiten in den Trümmern oder der Kartoffelklau am Lehrter Bahnhof gehören zum Alltag der Heimatlosen. Doch Autze weiß auch um die Versuche, den Flüchtlingsstrom institutionell zu kanalisieren. Und er berichtet von der Hilfsbereitschaft der Berliner Bevölkerung sowie vom Erfindungsreichtum ihrer unfreiwilligen Besucher, von denen 100.000 die Stadt nicht mehr verlassen sollten. Sicherlich ist das Quartier im Pferdestall nur schwer zu ertragen, will die Suppe aus dem Filtertopf der Gasmaske nicht munden, aber in der Not rücken die Menschen zusammen.

Größten Entbehrungen und bitterer Not entspringt so ein hartnäckiger Aufbauwille. Das Stichwort, an das sich für viele die Hoffnung auf einen Neubeginn küpft, heißt "Weiterleitung". Obwohl die neuen Siedlungsgebiete ebenfalls überfüllt und die Weiterleitung der Betroffenen zunächst ungeregelt ist, setzt mit dem einbrechenden Winter und einer Typhusepidemie eine regelrechte Berlinflucht ein (Aufruf an die Ausgewiesenen: "In Berlin könnt ihr nicht bleiben"). Auch wenn also der Weg, der aus Berlin herausführt, mindestens ebenso beschwerlich ist wie derjenige in die am Boden liegende Stadt hinein, so wird zumindest einigen Menschen ein glückliches Ende ihrer Odyssee beschieden sein. So wie Hildegard und Frau Holzinger, die den Zug nach Köln besteigen und von einer befreundeten Solinger Familie liebevoll aufgenommen werden.

Das ist das unerhört Wichtige an diesem Buch: dass es so mit der Primärerfahrung einer Generation gesättigt ist, die uns noch über das Erlebte und Durchlittene Auskunft geben kann. Autze: "Trotz mehrfacher Aufrufe in Presse, Rundfunk und Fernsehen war es nicht möglich, mehr als eine einzige Lagerhelferin ausfindig zu machen, die sich 1945 in Berlin um das Wohl der Flüchtlinge kümmerte." Trotz der mitunter erschütternden Innenansichten geraten zu keinem Zeitpunkt die übergeordneten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhänge aus dem Blick. Autzes Darstellung ist einfühlsam, bleibt dabei aber sachlich genau - ein Vorzug, der insbesondere angesichts der diesbezüglich desolaten Quellenlage zum Tragen kommt: Die in den Berliner Archiven lagernden Berichte füllen nicht mehr als einhundert Seiten.

Inwiefern sind Zeitzeugenberichte selektiv, wo dramatisiert der Berichterstatter womöglich unbewusst, wo trügt ihn die Erinnerung? Macht sich ein solches Buch nicht zwangsläufig zum Sprachrohr eines revanchistischen Nachtretens, indem es über das Unglück der Vertriebenen die Vertreiber denunziert? Der Verfasser hat sich diese Fragen bewusst gestellt und sein Buch, auch wenn er hier nicht unmittelbar thematisiert wird, nachdrücklich in den Kontext des "Schuldzusammenhang[s] zwischen den Verbrechen der Deutschen in Osteuropa und dem Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen" gerückt. Natürlich kann man nicht wissen, ob solche - berechtigte und glaubhafte - Sicherheitsvorkehrung die versammelten Berichte vor ihrer ideologischen Umdeutung schützen kann. Was zu ihrer Sichtung und Deutung getan werden konnte, wurde hier getan. Noch einmal: Ein wichtiges Berlinbuch zum richtigen Zeitpunkt.

Titelbild

Rajan Autze: Treibgut des Krieges. Flüchtlinge und Vertriebene in Berlin 1945.
Quadriga Verlagsgesellschaft, München 2001.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3886793516

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