Erste deutsche Märchenautorin wiederentdeckt

Nach über 200 Jahren wurden die Geschichten von Benedikte Naubert neu aufgelegt

Von Matthias SingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Singer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1812 schrieben die Gebrüder Grimm Literaturgeschichte, als der erste von zwei Bänden ihrer "Kinder- und Hausmärchen" herauskam. Seitdem wird fast jede Form von Märchen untrennbar mit ihnen in Verbindung gebracht. Doch ist gemeinhin bislang untergegangen, dass bereits zwei Jahrzehnte zuvor, von 1789-1792, die "Neuen Volksmärchen der Deutschen" erschienen waren. Auf über 1.200 Seiten finden sich dort 30 märchenhafte Erzählungen, Mythen und Sagen. Verfasst wurde das Mammutwerk von einer Frau: Benedikte Naubert.

Die 1756 in Leipzig geborene Tochter eines Arztes ist damit die erste Autorin, die deutsche Sagen und Märchen sammelte und zu Papier brachte. Jetzt haben Marianne Henn, Paola Mayer und Anita Runge das vierbändige Werk in leicht modernisierter Form wieder herausgegeben.

Benedikte Naubert erzählt in den "Neuen Volksmärchen der Deutschen" bekannte Volksstoffe, wie die Rattenfängersage, das Märchen vom Marienkind, die Nibelungensage oder die Sage von der weißen Frau. Ausführlich verknüpft sie darin Erlebnisse ihres bürgerlichen Alltags mit dem wundersamen Stoff der überlieferten Geschichten. Ihre Begeisterung für die griechische und die römische Mythologie wird dabei in auffälliger Weise nachgezeichnet. Sie versteht es aber auch, versteckte, bildhafte Kritik an Adel und Klerus mit einer ordentlichen Portion Ironie und Witz auszuschmücken. Ihre Version der Frau Holle ist nur eines von vielen charakteristischen Beispielen dafür.

Die kinderlose Autorin blieb lange Zeit unbekannt, da ihre Märchensammlung anonym veröffentlicht wurde. Allerdings war es zu jener Zeit auch keine Seltenheit, dass sowohl bekannte wie auch unbekannte Autoren ihre Werke anonym herausgaben und dann in den verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen die Diskussion darüber begann, wer denn nun diesen Roman oder jenes Drama verfasst haben könnte.

,Geoutet' wurde Benedikte Naubert schließlich 1817 durch die "Zeitung für die elegante Welt". Bis dato lebte sie mit der Anonymität ganz gut, bedeutete sie doch einen "vestalischen Schleier vor Lob und Tadel". Ohnehin war in Fachkreisen ihre Identität schon viel früher bekannt. Am 13. Dezember 1809 schrieb Wilhelm Grimm seinem älteren Bruder Jakob von seinem Besuch bei der Schriftstellerin in Naumburg. Dabei ließ er sich nicht nur die Titel ihrer Märchen fein säuberlich diktieren, sondern er dürfte wohl auch einiges an Inspiration für das sagenhafte Gemeinschaftswerk mit seinem Bruder mitgenommen haben.

Weniger die Märchen von Benedikte Naubert, sondern vielmehr ihre historischen Romane - über 50 an der Zahl (!) - prägten die deutsche Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie thematisiert alle historischen Epochen von Kaiser Karl dem Großen bis zu der Zeit Ludwigs XIV. So kam es nicht von ungefähr, dass selbst Gottfried Körner seinem Freund Friedrich Schiller empfahl, sich an "Werken, wie den historischen Romanen der Benedikte Naubert" zu versuchen. Man kann aber nur mutmaßen, ob Schiller für seine Abhandlung über den Dreißigjährigen Krieg und seinen "Wallenstein" die Geschichte von Nauberts "Gräfin Thekla von Thurn" übernommen hat.

Gegen Ende ihres Lebens hatte Benedikte Naubert mit ihrer zunehmenden Sehschwäche zu kämpfen. Das Schreiben verlangte ihr Tag für Tag eine immer größere Kraftanstrengung ab. Besonders schmerzlich aber war, dass mit dem Bekanntwerden ihrer wahren Identität zwei Jahre vor ihrem Tod 1819 ihr großes Werk wieder in Vergessenheit zu geraten drohte. Das Preußen der damaligen Zeit konnte sich noch nicht mit der Idee einer Frau als objektive und "rationale" Schriftstellerinstanz anfreunden. Schon bald war die stille Bürgersfrau nur noch einem eingeschworenen Kreis vertraut.

Es ist der gewissenhaften Textarbeit der drei Herausgeberinnen zu verdanken, dass Benedikte Nauberts Märchen in neuem Glanz erstrahlen. Die in der Staatsbibliothek zu Berlin fast unbemerkt schlummernden Werke wurden durch die Sichtung wieder zum Leben erweckt. Anita Runge, Mitherausgeberin und Wissenschaftlerin an der FU Berlin, ist überzeugt, dass die Geschichten trotz der beibehaltenen veralteten Ausdrucksweise und Grammatik auch der heutigen Leserschaft gefallen werden.

Auch in Naumburg will man der Schriftstellerin eine späte Ehre erweisen. Zwar sucht man an Benedikte Nauberts einstigem Wohnhaus am Marktplatz immer noch vergeblich nach einer entsprechenden Tafel, die auf die große Tochter der Stadt hinweist. Doch das Stadtarchiv Naumburg plant eine feierliche Märchenlesung und weitere Veranstaltungen zu Ehren der Autorin. Und mit der Stadt an der Saale sollte spätestens dann nicht mehr nur Friedrich Nietzsche in Verbindung gebracht werden.

Titelbild

Benedikte Naubert: Neue Volksmärchen der Deutschen. Kommentierte Studienausgabe.
Herausgegeben von Marianne Henn, Paola Mayer und Anita Runge.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
1224 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-10: 3892444358

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