Collage der Sechziger
Die "Beatles Anthology" ist mehr Evangeliar als historische Quelle
Von Heribert Hoven![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven](/rss/rss.gif)
Der Name "Anthology" suggeriert eine kanonische Sammlung. Tatsächlich ist das Werk ein Opus Magnum, schwergewichtig wie ein mittelalterlicher Psalter, eher für das Lesepult denn als Bettlektüre geeignet. Allerdings wurde der Titel der mehrstündigen Video- und Fernsehproduktion "The Beatles Anthology" entlehnt, die deshalb auch das meiste Bild- und Textmaterial für den Band lieferte, einschließlich allem, was dabei herausgeschnitten wurde. Was dort in bewegten Bildern zu sehen und zu hören war, ist hier, in aller Ruhe, nachzulesen, wobei man die Songs als Hintergrundsmusik allerdings selber auflegen muss.
Zahlreiche Interviews, entlegene und bekannte, wie etwa das 1981 mit dem Playboy geführte, werden hier zusammengeführt zu einem mehrstimmigen Chor über die Vier aus Liverpool und natürlich von diesen selbst. Am Anfang stehen autobiographische Portraits. Dann folgt die Chronologie jener Jahre 1962 bis 1969, in denen sich die Weltkarriere der Beatles vollzog. So ergibt sich ein großes und entsprechend buntes Mosaik aus Texten und Bildern. Das Kapitel 1960-1962 verrät mit seinen Ansichtskarten und Schnappschüssen aus dem Familienalbum noch etwas vom Charme der frühen Jahre. Durchaus klassenbewusst interpretiert John Lennon den Erfolg als ersten Aufstieg von Musikern aus der Arbeiterschicht. Die sich anschließende Erfolgsstory wird meist durch offizielle Pressephotos dokumentiert. Die zahlreichen Personen, auf die die Vier treffen und die sie erwähnen, werden ebenfalls durch kleinere Bilder illustriert. Die Texte enthalten neben viel Klatsch auch aufschlussreiche Kommentare über Entstehung und Intention der weltbekannten Songs. Je strahlender die Stars am Popfirmament leuchten, umso kritischer werden jedoch die Untertöne der Beteiligten, wenn etwa Lennon bekennt: "Das ganze Geschäft war schrecklich. Man muss sich total erniedrigen, um zu sein, was die Beatles waren." Nach sechs Jahren, 1968, als die Jugend der Welt gerade zu neuen Zielen aufbrach, waren die Vorreiter bereits am Ende angelangt. 1967 war der schillernde Manager Brian Epstein gestorben und 1968 traf der informelle Band-Leader Lennon auf Yoko Ono, die seinem Leben eine völlig neue Richtung gab. Weil sie als Leitfiguren entbehrlich wurden, löste sich die Gruppe nach einer letzten LP "Abbey Road" 1969 mit erstaunlicher Konsequenz auf.
Weil die Quellenlage der Texte völlig ungesichert bleibt, ist das Buch, trotz umfangreicher Personen-, Orts,- und Albumregister als Nachschlagewerk eher ungeeignet. Es ist vielmehr eine wunderbare Collage über die Sechziger, ihre Größe und ihre Grenzen, zu lesen wie ein Evangeliar, ein Stundenbuch, in dem man jeden Tag eine Seite aufschlagen kann, aus dem zwar kaum das Heil erwächst, wohl aber ein kleines Stück Lebenskraft.