"Mein Leben kann mir immer wieder entgleiten"

Andrew Solomon führt in "Saturns Schatten" in die dunklen Welten der Depression

Von Jörg GeßnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Geßner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit welchen Worten soll man ein Buch loben oder kritisieren, das eine Krankheit zum Thema hat, die von Dörner/Plog in ihrem Standardwerk "Irren ist menschlich" so zutreffend mit "Der sich und andere kränkende Mensch" beschrieben ist, der Depression. Kann man ein solches Buch als schön, als gut oder andernfalls als missraten bezeichnen? Vielleicht ist der Begriff der Angemessenheit der treffendste. In zwölf Kapiteln gelingt Andrew Solomon eine Beschreibung der Depression, die - für ein sich ausdrücklich nicht als medizinisches Handbuch der Depression verstehendes Buch - umfassender kaum möglich erscheint.

Ein jedes Kapitel enthält autobiographische Rückbezüge des Autors, der mit knapp 30 Jahren, als ihm in seinem Leben alles geregelt erscheint, zum erstenmal zerbricht: In der Schilderung dieses und seiner folgenden Zusammenbrüche findet Solomon Worte für die Empfindungen und Störungen, die die Depression begleiten und ausmachen. Aber es sind nicht nur die eigenen Bilder und Beschreibungen, die in dem Buch Einblick in das Seelenleben des in der Depression versinkenden Menschen liefern: In vielen Gesprächen und Interviews, die Solomon für die Recherche seines Buchs rund um den Globus geführt hat, entsteht eine komplexe Topographie der Landschaft der Depression, die ohne Wehleidigkeit auskommt.

Eindrucksvoll und informativ sind jene Kapitel gelungen, in denen sich Solomon mit Therapien und deren möglichen oder scheinbaren Alternativen auseinander setzt. In ihnen finden sich alle Varianten sowohl psychiatrischer und psychotherapeutischer als auch somatischer Behandlung. Nach einem sehr ausführlichen aber nie langatmigen Diskurs über die aktuellen Vorstellungen biochemischer und neurologischer Ursachen der Depression, lehrt er jene Leser eines Besseren, die dabei glauben, Solomon hätte die Lösung des Leib-Seele-Problems zugunsten eines somatischen Verständnisses gelöst: vehement wehrt er sich gegen eine Reduktion des Krankheitsbildes auf eine bloße Stoffwechselstörung des Gehirns. Die Frage, ob Psychotherapie oder Medikation, stellt sich ihm nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern er gibt beiden Behandlungsformen ihren angemessenen Raum. Für ihn selbst steht einerseits fest, dass er ohne Medikation nicht mehr am Leben sei, andererseits erscheint ihm unvorstellbar, ohne begleitende und fortwährende Psycho- und Verhaltenstherapie sein Leben gestalten zu können.

Eindringlich ist in diesem Abschnitt auch die Diskussion um die Elektrokrampftherapie (EKT). Zwar findet diese auch in ihm keinen glühenden Verfechter, aber die während seiner Recherchen gefundenen Beispiele eines positiven Ausgangs, die eben konkrete persönliche Lebensperspektiven erst wieder ermöglichten, lassen es für ihn auch nicht zu, sie vollkommen abzulehnen. Am Ende erscheint nicht nur ihm jedes Mittel recht, um aus dem Zustand des völligen Zusammenbruchs einen Ausweg zu finden, so dass eine Position, die eine solche Behandlung stigmatisiert, für ihn nicht einnehmbar ist.

Die weiteren, nicht minder lesenswerten Kapitel, behandeln die Zusammenhänge der Depression aus der Perspektive von Sucht, Suizid und Armut. Letztere nimmt für Solomon eine Stellung ein, die man im Allgemeinen innerhalb von Darstellungen zur Depression - auch der Fachliteratur - so nur in kurzen Sätzen und Statistiken abgehandelt findet. Es fehlt weiterhin auch nicht an ausführlichen Darstellungen zu den in der Historie wechselnden Vorstellungen über die Ursachen und Behandlungsformen der Depression, ethnologische Vergleiche lassen die Vorstellung über die Depression als eine westliche Zivilisationskrankheit als obsolet erscheinen.

Es sind zum Schluss zwei Punkte, die das Lesen von "Saturns Schatten" erschweren. Durch die in den einzelnen Kapiteln sich wiederholenden Metaphern, die Solomon und die von ihm Befragten für ihr Kranksein gefunden haben, widerfährt dem Text eine Redundanz, die eben die Eindrücklichkeit derselben verblassen lassen. Für die zweite sich einstellende Schwierigkeit ist Solomon aber schon nicht mehr verantwortlich: Die Schilderung seiner Erkrankung und seiner Versuche, eine für ihn geeignete Therapieform zu finden, bieten als Konnotation Einblicke in das amerikanische Gesundheitssystem. Diese Einblicke offenbaren, dass die Möglichkeit, eine adäquate Behandlung für das Kranksein zu finden, in diesem Land eine Frage finanzieller Ressourcen ist, die ihm - Solomon - offen stehen, aber eben längst nicht allen. Hiesige Debatten um die Reformierung des Gesundheitssystems mit dem Ziel einer durch Eigenvorsorge zu ergänzenden minimalen Grundversorgung erscheinen so in einem Licht, die, gehört man nicht unbedingt einem sich als liberal verstehenden Darwinismus an, nichts Gutes für die Entwicklung in Deutschland erahnen lassen.

Für Leser, die an einer weitergehenden Diskussion über das Buch und seiner Thematik interessiert sind, finden mit der Adresse http://www.noondaydemon.com/articles.html einen geeigneten Ausgangspunkt.

Titelbild

Andrew Solomon: Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
576 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3100704029

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