Kein Ende dem Epochenende

Thomas Manns "Doktor Faustus" zwischen Aktualität und Tradition

Von Ingo Marten KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingo Marten Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verrisse, Anfeindungen und persönliche Schmähungen sind seit Beginn der Literaturkritik unrühmliche Bestandteile von Buchbesprechungen. Vom betroffenen Autor vorgenommene Repliken fallen selten feinfühliger aus. Inhaltlich und formal jenseits wissenschaftlicher Ummantelung ergießen sich Diffamierungen auch über den Rezensenten, der kritisch versuchte, dem Werk, der Wissenschaft und der Profession gerecht zu werden. Als "schnöde[n] Verriß", "persönliche Anfeindung", als "das Stumpfeste, Dümmste und Versperrteste" bezeichnet Thomas Mann eine der ersten Rezensionen des "Doktor Faustus", die die prominente, mit ihm ein persönliches Verhältnis pflegende Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger verfasste. Hamburgers Offenlegen der "anachronistischen Symbolik" vom Teufelspakt eines modernen Musikers als Bild einer gesamten Epoche, die Darlegung einer "gewaltsame[n] Parallele" zwischen faustischem Künstler- und gesellschaftskritischem Deutschlandroman, offenbart die Schwäche der erzählerischen Konzeption des "Doktor Faustus" bereits im November 1947. Die Untersuchung dieses konzeptionellen Mangels wird trotz aller methodologischen Umbrüche und inhaltlichen Interessen zum Paradigma literaturwissenschaftlichen Forschens der letzten fünf Jahrzehnte.

Anlässlich des 50. Jahrestages der Publikation des "Doktor Faustus" veranstaltete die Humboldt-Universität Berlin im Juni 1997 ein Kolloquium, dessen wissenschaftliche Erträge Ende 2001 publiziert worden sind. Der Interdisziplinarität verpflichtet, wird der "Faustus"-Roman zum Gegenstand literatur-, politik-, geschichts- und musikwissenschaftlicher Forschungsperspektiven und Untersuchungsmethoden. Einer Koinzidenz der Ergebnisse steht das Fehlen eines übergreifenden Beitrags und eine Separierung der Abhandlungen in drei Abschnitte entgegen: Literarischer Text und politischer Kontext, Figuration des Diabolischen, Poetik und Komposition in Literatur und Musik lauten die Kapitel des Sammelwerks.

Dem Buchtitel gemäß formuliert Vaget einleitend den Anspruch der Beiträge, den Roman gerade unter veränderten Rezeptionsbedingungen zu analysieren, den Bedeutungszuwachs spezifischer Aspekte oder deren Vernachlässigung zu problematisieren. Trotz veränderter Rezeptionsvoraussetzungen - aufgrund der wissenschaftlichen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Disziplinen, einer veränderten Quellenlage und nicht zuletzt des historisch-politischen Rahmens - steht hier vielmehr die Untersuchung einer ,Wiederkehr des Gleichen' im Vordergrund.

Unter Einbezug der obigen Kommentare Manns erarbeitet die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Irmela von der Lühe ein gegenseitiges Durchdringen von mythischem und biographischem Erzählen im "Doktor Faustus". Der Entwurf einer Einheit von Werk- und Lebensplan - verknüpft mit dem Erlösungsmotiv Parsifals - bestimmt die Konzeption und deren nachträgliche Rechtfertigungen im "Fortschreiben des Romans" ("Die Entstehung des Doktor Faustus", Essays, Tagebücher...). Ein Einbezug der Debatte über die innere Emigration wäre eine ertragreiche Ergänzung zum Spannungsfeld Musiker- und Deutschlandroman, durch die die "Bedeutung" von Künstler und Vaterland bei Thomas Mann nachträglich unter veränderten Rezeptionsbedingungen erkennbar würde.

Die Gruppe der historisch-politischen Aufsätze zum "Doktor Faustus" als Deutschlandroman komprimiert präzise Manns bildungsbürgerliche Deutungsmuster und dechiffriert so Aspekte einer biographisch-persönlichen Färbung des Romans. Bollenbeck, der die Synthese von Künstler- und Deutschlandroman als konzeptionelles Fehlgehen expliziert, erklärt die Heterogenität der semantischen Ebenen im "Faustus" anhand Manns "Verbundenheit" mit Vorstellungen und Begrifflichkeiten des 19. Jahrhunderts. Die bildungsbürgerliche Theorie einer im Medium der Kultur sich bildenden Individualität und das Insistieren auf die organische Geschlossenheit des Werks begründen die "überdehnte Romankonzeption". Lämmerts Lesart, den Roman als Allegorie der deutschen Geschichte zu verstehen, einer reinen Mentalitätsgeschichte, ohne soziale oder ökonomische Determinanten und Münklers Analyse, Manns Konzeption als ein fortgesetztes Scheitern der Deutschen zu begreifen, deren Gutes aufgrund ihrer Innerlichkeit zum Bösen degeneriert, schließen sich thematisch an die von Bollenbeck dargelegte Ignoranz politisch-sozialer Realitäten bei Thomas Mann an. Es sind in der Forschung häufig thematisierte Komplexe. Auch Breuer sieht in der politischen Semantik des "Faustus" die Schlüsselrolle der erzählerischen Konzeption. Manns Kritik des bürgerlichen Typus und zugleich seine Sympathie mit ihm, der Versuch einer Synthese von konservativer Kulturidee und revolutionärem Gesellschaftsgedanken, ein genuin "rechts-konservatives" Projekt in ein linkes zu transformieren, begründen den Konzeptionsbruch.

Als zutreffend erscheint Vagets Verweis auf Thomas Manns versteckten Antisemitismus. Beispielsweise die Romanfigur Saul Fittelberg, der als Jude die deutsche Tiefe nicht ermessen kann und so lediglich "hospitierend" an der deutschen Kultur teilnimmt, zeigt antisemitische "Versatzstücke". Die Etikettierung "Epochenroman" hätte darüber hinaus einer zentralen Thematisierung des Holocaust bedurft, die aber im "Doktor Faustus" unterbleibt.

Von der diametral entgegengesetzten Seite, den "Faustus" als Künstlerroman verstehend, entwerfen die Beiträge Plebuchs, Danusers und Osterkamps die Rolle der Musik für die erzählerische Konzeption. Für den Stanforder Musikwissenschaftler Plebuch können die einzelnen Aspekte des Werks nur mit dem "Roman auf dem Klavierpult" erfasst werden. Plebuch erläutert die Rolle des Dämonischen in der Musikgeschichte und dessen konzeptionelle Verarbeitung im Roman, indem er den "Faustus" gleichsam als Partitur liest. Zu beeindrucken weiß seine musikhistorische Herleitung der Bedeutung des Tritonus-Intervalls ("Diabolus in musica") und dessen Modulation in den "Freischütz"-Passagen, die an bedeutsamen Stellen im "Faustus" auftauchen (Bordellbesuch, Palestrina). Während Danuser die fiktive Musik im Roman einer theoretisch-poetologischen Betrachtung auf der Höhe musikwissenschaftlicher Ansätze unterzieht, beleuchtet Osterkamp das Werk des luetischen Künstlers "Apocalipsis cum figuris" als thematische Verdichtung der Motivstränge Deutschland- und Künstlerroman. So gliedert sich das 34. Kapitel in Entstehung der "Apocalipsis", deren geistesgeschichtlichen Hintergrund (Kridwiß) und geistigen Gehalt. Das musikalische Material bleibt von der geschichtlichen Tradition abhängig. Analog zu Manns Nietzsche-Bild begründen auch Künstler und Werk nicht den Faschismus, sondern fungieren als Seismographen.

Weitere Motive werden als Figurationen des Diabolischen im Umfeld ihrer Entstehung und Transformation in der literarisch-kulturellen Tradition betrachtet. Die Beiträge aus dem Bereich der Mediävistik stellen die frühneuzeitliche "Historia von D. Johann Fausten" ins Zentrum der Analyse. Während Böhme, der die Funktion und Bedeutung des Motivs ,Affe' in der Historia untersucht, auf jeglichen Bezug zum "Doktor Faustus" verzichtet, betrachtet Röcke den Zusammenhang von Volksbuch und Manns Roman bezüglich des Motivs ,Lachen'. Die Begrenzung auf einen damönisch-destruierenden Aspekt des Motivs für den "Faustus" vernachlässigt aber seine Funktion im Kontext einer heiteren Utopie. Der Beitrag Borchmeyers, der seine Abhandlung "Musik im Zeichen Saturns" fortführt, transzendiert Röckes Ansatz. Eine utopische Transformation der Kunst ins Heitere-Bescheidene bildet den Kontrast zu einer der ,Superbia' verfallenen Genieästhetik und propagiert so auch einen Widerstand gegen die Dehumanisierung der Epoche.

Als ertragreich bezüglich der Motivuntersuchung gestalten sich J.-D. Müllers diachrone Betrachtung der Faustfigur bezüglich paradigmatischer Wechsel in der literarischen Tradition und M. E. Müllers synchrone Untersuchung des Teufelspaktes. In ihrer komparatistischen Interpretation von Döblins "November 1918" und Langgässers Siegelroman beschreibt Müller das Symbol des Teufelspakts als zeittypisches Motiv. Während aber die Helden bei Döblin und Langgässer nur die eigene Seele retten, verspricht Mann eine Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit für das nationale Kollektiv.

In Kropfingers überzeugendem Beitrag zur Leitmotivik wird ein Montageprinzip ermittelt, das gerade "strukturell harmonisierend" wirkt. Der Entwurf verbürgt Erfolg, betrachtet man die prinzipielle Funktion der Motive als "anknüpfungsvariabel" und "verknüpfungsaktiv". Die strukturelle Glättung wird in den Horizont des Rezipienten als Mitschöpfer des Werks verlagert, der eine sinngebende und -hebende Weiterführung vollzieht. Kropfingers Rekurs auf aktuellere Methoden der Textanalyse erscheint im Umkreis zahlreicher werkbiographischer Ansätze als wohltuend.

Resümierend muss eine an Wagner geschulte, zum mythischen Erzählen erweiterte Leitmotivik als eigentliches konzeptionelles Grundgerüst des "Doktor Faustus" verstanden werden. So wird Wagner zum eigentlichen musiktheoretischen Paradigma des Romans, das dem bloß bruchstückhaft integrierten Zahlengerüst der Dodekaphonie (Vaget) überlegen ist. Somit ist die konzeptionelle Entscheidung bereits vor Adornos Mitwirkung gefallen. Gerade die partielle Integration von Adornos musiktheoretisch-literarischen Unterweisungen trug zur konzeptionellen Heterogenität bei, zumal Mann an traditionellen Vorstellungen von literarischer Ganzheit und Abgeschlossenheit des Romans festhielt.

Wie der Roman als Roman des Epochen-Endes Produkt seiner Zeit bleibt, so sind auch die Interpretationsbeiträge auf den wissenschaftlichen Stand der Gegenwart bezogen, wenn auch die propagierte thematische Aktualität nicht immer auszumachen ist. Verwirrend bleibt der Buchtitel, der wohl eine Forschungsgeschichte aus mehreren Jahrzehnten erwarten lässt. Mit seinen Beiträgen zeigt der Sammelband, dass die aktuelle Rezeption des Romans des Epochen-Endes auch nach fünfzig Jahren nicht zu Ende gekommen ist.

Titelbild

Werner Röcke (Hg.): Thomas Mann. Doktor Faustus. 1947-1997.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
378 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3906766292

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