Fools on the Hill
Anarchie, Askese und Erotik auf dem Monte Verità
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseShangri La, das mythische Reich des Goldenen Zeitalters, wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von so manchem 'barfüßigen Propheten' nicht etwa zwischen den zerklüfteten Gipfeln des Himalaja gesucht, sondern in den Schweizer Alpen auf einem oberhalb Asconas gelegenen Hügel mit dem klangvollen Namen Monte Verità.
Im Herbst 1900 hatten Ida Hofmann und Henri Oedenkoven den Höhenzug erworben und dort ein Hotel für großstadtgestresste Gäste errichtet, das Sonnenbäder und "Lichtluftkuren" ebenso bot wie vegetarische Ernährung und eine asketische Unterkunft. So sollte eine finanzielle Basis für das eigentliche Vorhaben geschaffen werden: die lebendige Vorwegnahme anstehender utopischer Verbesserungen des Weltganzen. 1920 jedoch veräußerten sie desillusioniert das Hotel an eine Künstlergruppe und wanderten nach Brasilien aus. Bald darauf erstand Baron Eduard von der Heydt das Anwesen, das nach dessen Tode 1964 schließlich an den Kanton Tessin fiel. Dieses Ergebnis eines enthusiastischen Aufbruchs klingt ernüchternd, doch in den ersten zwei Dezennien des noch jungen Jahrhunderts waren zahlreiche illustre Gestalten auf die Anhöhe gepilgert, um dort kurz zu verweilen oder sich für längere Zeit niederzulassen. Darunter waren der ebenso charismatische wie umstrittene Psychoanalytiker, Anarchist, Matriarchatsverfechter und extensive Kokainist Otto Gross, der später von den Nazis ermordete Anarchist, Bohemien und Literat Erich Mühsam und die vermeintlich personifizierte Männerphantasie der Münchner Boheme Franziska zu Reventlow, die das wohl gelungenste satirische Portrait auf das von ihr Wahnmoching genannte Schwabing des Fin de siècle verfasste. Doch nicht alle fanden am Monte Verità Gefallen. Reventlow bereute ihren Umzug schon bald und bekannte Paul Stern, dass sie "elendiges Heimweh" habe und "wieder Menschen sehen" möchte. "Hier gibt es keine, nur Narren und Propheten."
Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des "Berges der Wahrheit" richtete der Kanton Tessin Ende 2000 eine Tagung unter dem Motto "100 Jahre Monte Verità. Wahrheit und Bewährung" aus. Ziel der Festschrift, so die HerausgeberInnen Andreas Schwab und Claudia Lafranchi, sei eine kritische Auseinandersetzung mit der 100-jährigen Geschichte des Monte Verità. Daher handele es sich bei dem Band um kein "typisches Jubiläumsprodukt". Die einleitenden Worte Gabriele Gendottis, ihres Zeichens Stadträtin des Kantons Tessin und Präsidentin der Fondazione Monte Verità, haben zuvor allerdings schon auf unangenehme Weise einen gegenteiligen Eindruck erweckt. Sie überschlägt sich geradezu in hymnischen Superlativen. So gelingt es ihr, innerhalb weniger Zeilen von "einem der größten Zentren des europäischen Intellektualismus" mit einer "ruhmreiche[n] Vergangenheit" zu schwärmen, das Seminarzentrum zu lobpreisen, das von "höchstem Niveau" sei und schließlich auf die "herausragende Rolle" des Hügels für das Wachstum des Tessiner Universitätswesens hinzuweisen.
Für die Beiträge versprechen die HerausgeberInnen jedoch eine "offene Auseinandersetzung" mit dem Phänomen Monte Verità. Etlichen AutorInnen gelingt tatsächlich ein erfrischend kritischer, deshalb aber nicht unfreundlicher Blick auf den Berg der Wahrheit, so etwa Andreas Schwab selbst, der ihn "von außen" beleuchtet, Fabio Minazzi, der die "Erfahrungen von Monte Verità im Kontext der philosophischen Debatte" anspricht oder Edith Hanke in ihrem Aufsatz über "die Ideen Leo N. Tolstois", den sie als "Mann der Wahrheit" lobt. Auch Hermann Müller ist hier zu nennen, der allerdings das Konkurrenzunternehmen Monte Gioia des von ihm sehr verehrten Gusto Gräser favorisiert und diesem gegenüber nur wenig Kritisches äußert.
Man mag allerdings bezweifeln, dass der Monte Verità "als vergangenes gesellschaftliches Experimentierfeld auch für unsere Zeit von Bedeutung ist", wie die HerausgeberInnen meinen. Und sollte ihre Feststellung zutreffen, dass es sich bei ihm um einen "Vorläufer der Erlebnisgesellschaft" handelt, so hätten sie das so gepriesene Projekt unfreiwillig entzaubert. Ihre schwärmerischen Ausführungen, es habe die "moderne Sport- und Fitnessästhetik" vorweggenommen, "die in der heutigen Werbung das ideale Bild des Menschen" präge und dem "eine große Anzahl von Frauen und Männern freiwillig und mit Vergnügen" nachstrebten, nimmt sich angesichts magersüchtiger und bulimierender junger Frauen, die den ebenso unerreichbaren wie retouchierten 'Idealen' der Laufstege und Werbeplakate nacheifern, geradezu naiv aus.
Zu den Verdiensten des Bandes zählt etwa, dass in Sam Whimsters Beitrag längere Auszüge aus den Briefen, die Max Weber 1913 und 1914 während seiner österlichen Aufenthalte aus Ascona an seine Frau schrieb, erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht werden. In den Briefen um Ostern 1913 berichtet Weber seiner Frau - soweit die Auszüge erkennen lassen - überwiegend von Frieda Gross, der Gattin Otto Gross', die nun schon seit einigen Jahren mit dem Anarchisten Ernst Frick liiert war. Weber und seine Frau hatten sie Mitte der 1890er Jahre als junges Mädchen in Freiburg kennen gelernt. Otto und Frieda Gross, die 1903 geheiratet hatten, "einigte[n]" sich 1906 "auf Freizügigkeit in der Liebe", erläutert Whimster den Hintergrund von Webers Berichten über Frieda Gross' Lebenslage und erwähnt, dass ihr Mann 1907 Liebschaften zu mehreren Frauen unterhielt, und sie selbst ein Jahr darauf eine zu dem Philosophen Emil Lask. Das klingt alles sehr glatt und problemlos. Unerwähnt bleibt allerdings, dass der freie Liebhaber Gross mit heftiger Eifersucht reagierte, als seine Frau 1907 ihrerseits eine sexuelle Beziehung mit Erich Mühsam begann, und dass Gross den Anarchisten - wie Mühsam in seinem Tagebuch festhielt - mit einem "Mordplan" verfolgte. Später, während der langjährigen Beziehung seiner Frau mit Frick, war Gross gegen diesen "voller Hass [...], der ihn ganz beherrscht[e]", wie wiederum Mühsam notierte. In einem anderen Beitrag des Bandes erfährt man von Emmanuel Hurwitz, dass die "zahllosen Frauenbeziehungen" von Gross meist "unglücklich und für Otto Gross bedrohlich" gewesen seien, "sobald ihm die Frauen zunahe kamen". Über Gefühle und Schicksal der Frauen erfährt man bei ihm nichts - und bei Whimster... nun ja. Er erwähnt beiläufig, dass Gross 1911 "wegen des Skandals, den der Selbstmord von Sophie Benz auslöste, Ascona fluchtartig verlassen" musste. Der Zusammenhang scheint seltsam dunkel und wird von Whimster auch nicht erhellt. Man muss sich schon anderswo kundig machen, um zu erfahren, dass es sich bei Sophie Benz um die (ehemalige?) Geliebte von Gross handelt und er ihr, nachdem sie kurz zuvor eine Affäre mit Frick begonnen hatte, das Gift zum Suizid gereicht hat - ebenso wie bereits einige Jahre zuvor der Anarchistin und Monte-Veritànerin der ersten Stunde Lotte Chatemmer. Schließlich gab Gross auch der von ihm geschwängerten Schriftstellerin Regina Ullmann Gift und "malte ihr", wie Peter Hamm berichtet, "die Vorzüge des Freitods aus". Ihr gelang es allerdings, seinen Überredungskünsten zu widerstehen. Erich Mühsam war einer der wenigen, die Gross überzeugen konnte, dass er den Suizid von Sophie Benz nicht absichtlich herbeigeführt hatte. Daher also die Notwendigkeit der Flucht. Wie bedrohlich die Frauenbekanntschaften für Gross auch immer gewesen sein mögen, wenn sie tödlich endeten, dann jedenfalls nicht für ihn.
Whimsters Bemühen, möglichst keinen Schatten auf Gross fallen zu lassen, ist unverkennbar. Doch hindert ihn das immerhin nicht, Passagen in Webers Briefen anzuführen, die Gross in wenig günstigem Licht erscheinen lassen. Weber fand den koksenden Psychoanalytiker denkbar unsympathisch und nannte ihn "brutal und unliebenswürdig". Auch das Kapitel 'Freie Liebe' liest sich in Webers Briefen anders: Frieda Gross, so berichtet er seiner Frau, habe ihm von der "seelisch furchtbar strapazanten Poligamie" erzählt, "es sei furchtbar und ganz aussichtslos und ihre Kräfte seien fertig, sie könne kaum noch".
In einem der abschließenden Beiträge widmet sich Ulrich Linse dem weithin unbekannten "Hunzaland" und zeigt, dass es nicht nur möglich ist, ein Shangri La in den Schweizer Alpen zu finden, sondern auch den Monte Verità im Himalaja.
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