Bedingt rational

In Julian Nida-Rümelins und Thomas Schmidts Einführung zur "Rationalität in der praktischen Philosophie" sind die Teile besser als das Ganze

Von Marc SchattenmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Schattenmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was das Kleingedruckte den Juristen, sind die Untertitel den Wissenschaftlern: Der Ort, an dem die Haftungsausschlüsse platziert werden. Der Untertitel "Eine Einführung" wirkt dabei ähnlich wie ein genereller Haftungsausschluss, mit dem sich jede Klage über nicht erbrachte Leistungen abschmettern lässt - es ist ja "nur" eine Einführung. Selbstverständlich, so werden die Autoren sagen, hätten wir noch etwas über A und B schreiben können - aber den Rahmen einer Einführung hätte das gesprengt.

Nun sind Einschränkungen grundsätzlich sinnvoll; sie sind sogar unvermeidlich. Trotzdem sind an jedes Produkt gewisse Anforderungen zu stellen. Wesentliche Eigenschaften sind vom Ausschluss ausgeschlossen. Ein Auto muss fahren, egal, was im Kleingedruckten des Kaufvertrags steht. Genauso muss eine Einführung tatsächlich einführen, d. h. sie muss Neulingen den Einstieg in ein Themengebiet eröffnen, der es ihnen erlaubt, ihre eigenen Wege zu finden. Dazu gehört, dass sie den Anfängern einen Überblick über den geistigen Raum verschafft, welchen sie erschließen sollen.

Julian Nida-Rümelin und Thomas Schmidt ist dies mit ihrer Einführung zur "Rationalität in der praktischen Philosophie" nur bedingt gelungen. Dies mag daran liegen, dass sie es gar nicht ernsthaft versucht haben. Diesen Verdacht legt zumindest das Vorwort nahe, welches interessanterweise nur von einem der beiden Autoren verantwortet sind - jenem, der mittlerweile den Lehrstuhl für Philosophie gegen einen Platz auf der Regierungsbank eingetauscht hat und zum Zeitpunkt des Verfassens schon auf einem Referentensessel im Münchner Rathaus saß. Nida-Rümelins Danksagung an seinen "wissenschaftlichen Assistenten und Mitautor" dafür, "daß aus der Vielfalt von Themen und Texten, die sich in vielen Jahren meiner wissenschaftlichen Befassung mit praktischer Rationalität aufgetürmt haben, ein übersichtliches Buchmanuskript hervorgegangen ist", mag ehrlich gemeint sein - Kennern akademischer Arbeitsteilung dient sie aber als Indiz dafür, dass der Chef seinen Assistenten damit beauftragte, aus bestehendem Material die Rohfassung für ein neues Buch zu basteln. Bei den Kapiteln 7 und 12 wird dieser Prozess explizit eingestanden; diese "beruhen" nach Angaben in den Fußnoten auf früheren Publikationen Nida-Rümelins.

Nun ist dieses Verfahren nicht prinzipiell ehrenrührig. Ganz im Gegenteil: Es ist gute akademische Praxis, Autoren, die durch zahlreiche spezielle Publikationen ausgewiesen sind, um die Abfassung einer generellen Einführung in ihr Fach zu bitten. Problematisch wird das Verfahren dann, wenn sich die Einführung auf diejenigen Aspekte des Fachs beschränkt, die der Verfasser vorher schon bearbeitet hat, und sich dadurch mehr an den Vorlieben des Autors als an den Bedürfnissen der Leser orientiert.

Das ist also der Vorwurf, den man der Einführung von Nida-Rümelin und Schmidt nicht ganz ersparen kann. An den einzelnen Kapiteln ihres Buches ist per se nichts auszusetzen - sie diskutieren und erläutern die jeweiligen Probleme und Theorien sehr kompetent und wohltuend jargonfrei - , in toto erfüllen sie ihre Funktion als Einführung in die Rolle der Rationalität in der praktischen Philosophie aber nur unzureichend. Als Abhandlungen einzelner Aspekte der Rationalität können die zwölf Kapitel überzeugen, aber es fehlt ihnen die Einordnung in einen konsequent gestalteten Rahmen, der ihren inneren Zusammenhang sichtbar macht. Die Einführung der beiden Autoren gleicht einer Schlossführung, bei der zwei kompetente Kunsthistoriker zwölf einzelne Zimmer eines Palastes zeigen und in allen Einzelheiten erläutern, aber ihren Gästen den Blick auf das gesamte Gebäude oder seinen Grundriss verwehren. Dadurch wird genau das verhindert, was Sinn und Zweck einer Einführung ist: Orientierung und Überblick.

Die Verweigerung des Gesamtzusammenhangs hat mit einer Einschränkung des Themas zu tun, die der Titel des Buches nicht kenntlich macht: "Rationale Wahl und praktische Philosophie" wäre ein ehrlicherer Titel gewesen, denn unter "Rationalität" verstehen die Autoren vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, die "rationale Wahl" im Sinne des Rational-Choice-Ansatzes. Dass sie diese Einschränkung nicht weiter erläutern, sondern stillschweigend so tun, als ob sich Rationalität in rationaler Wahl erschöpfe, ist eine der Barrieren, die dem Neuling den Blick auf die Zusammenhänge erschweren. Wie soll er die aus der Rational-Choice-Perspektive diskutierten Probleme richtig einordnen, wenn der Rational-Choice-Ansatz selbst nicht ausreichend eingeordnet wird in den größeren Zusammenhang, in dem er steht? Wie soll er die Bedeutung der Kapitel über "Rationalität und politische Ordnung", "Rationalität und Utilitarismus" und "Rationalität und Gerechtigkeit" bewerten können, wenn ausgerechnet die beiden Denker, die das westliche Verständnis von Rationalität und praktischer Philosophie maßgeblich geprägt haben, nicht erwähnt werden: Aristoteles und Kant? Wie soll der Leser verstehen, wofür die Begriffe "Rationalität" und "praktische Philosophie" stehen, und wie soll er darüber urteilen lernen, welche Varianten des Verhältnisses von Rationalität und praktischer Philosophie denkbar sind, wenn ihm zwar Webers Definition vorgelegt wird, wonach Soziologie eine Wissenschaft ist, "welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will", ihm aber dessen wichtige Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Wertrationalität vorenthalten wird?

Mehr Einführung hätte dem Buch von Nida-Rümelin und Schmidt gut getan. Die Rolle der Theorien rationaler Wahl für die praktische Philosophie ist sicher eines der spannendsten philosophischen Themen unserer Zeit - aber so richtig erfassen kann den philosophischen Lehrling die Spannung erst, wenn ihm zwei Fragen vor Augen geführt wurden: Was soll praktische Philosophie leisten? und Wie kann sie leisten, was sie leisten soll? Beide Fragen zusammen weisen nämlich darauf hin, dass Theorien rationaler Entscheidung mehr sein können als der Platz, auf dem Philosophen ihre intellektuellen Pirouetten drehen und ihre Brillanz bei der Beherrschung mathematischer Formeln zur Schau stellen können. Theorien rationaler Entscheidung können uns dabei helfen, Antworten zu finden auf Fragen, die für unser alltägliches Leben von größter Bedeutung sind. Praktische Philosophie ist, selbst wenn sie in die Gedankenspiele der Entscheidungstheorie gekleidet ist, kein Spiel, sondern der ernsthafte Versuch, die praktischen Fragen des Lebens zu beantworten.

Die Darstellung dieses Sachverhaltes kommt in dem Buch zu kurz. Als allein stehende Einführung ist es von daher wohl nicht der Weisheit letzter Schluss, obwohl die einzelnen Kapitel von hoher Qualität sind. Was ihnen fehlt, ist die Einordnung und Verbindung. Wollte man im Sinne des Verbraucherschutzes die Produkthaftung verbessern, würde sich also nicht nur ein anderer Titel empfehlen - "Rationale Wahl und praktische Philosophie" - , sondern auch ein anderer Untertitel: "Grundlagentexte für eine Einführungsveranstaltung".

Titelbild

Julian Nida-Rümelin / Thomas Schmidt: Rationalität in der praktischen Philosophie. Eine Einführung.
Akademie Verlag, Berlin 2000.
282 Seiten, 33,23 EUR.
ISBN-10: 3050029447

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