Jenseits von Ostalgie und Popliteratur

Über einen Sonderband der Reihe Text+Kritik zur "DDR-Literatur der neunziger Jahre"

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel ist eine wohl formulierte Provokation. "DDR-Literatur der neunziger Jahre" heißt ein Sonderband der Reihe Text+Kritik, der zehn Jahre nach der Wiedervereinigung den Finger auf eine noch immer klaffende Wunde legt: die innere Einheit, das Zusammenwachsen der Deutschen ist ein unerwartet langsamer und schwieriger Prozess - dem auch die Autoren in Ost und West ausgesetzt sind.

Schwerlich erleichtert wurde dieser Prozess durch den völlig verunglückten Auftakt der intellektuellen Auseinandersetzung: Der "deutsch-deutsche Literaturstreit", der sich im Sommer 1990 an Christa Wolfs schmalem Büchlein "Was bleibt" entzündete und sich bald darauf zu einer Diskussion der Rolle der Schriftsteller in der DDR, schließlich gar der deutschen engagierten Nachkriegsliteratur entwickelte, spiegelte letztlich jedoch nur das allgemeine Unverständnis vieler Westdeutschen für die ehemaligen DDR-Bürger, für ihre Geschichte und Biografie wider. So wurde die oberflächliche Lektüre der Wolf'schen Erzählung einigen Rezensenten zum willkommenen Anlass für eine Generalabrechnung mit denjenigen DDR-Intellektuellen, die am Sozialismus bis zuletzt festgehalten hatten. Christa Wolf selbst wurde dabei sozusagen von der gefeierten gesamtdeutschen Autorin zur ostdeutschen "Staatsdichterin" degradiert. Auch die undifferenzierte, sensationsheischende Vermeldung jeglichen Stasi-Kontaktes einer öffentlichen Person (bei den Autoren reichte die Liste von Christa Wolf über Heiner Müller bis zu Monika Maron) überschattete lange eine sachliche Auseinandersetzung mit dem System der DDR.

Vielleicht war wirklich ein Jahrzehnt notwendig, um endlich zu einer distanzierteren Diskussion und einer ersten Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung zu finden. Die Textsammlung zur "DDR-Literatur der neunziger Jahre" unternimmt einen solchen Versuch für die Autoren der DDR, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Zwar ist der Fokus der Untersuchungen auf die Zeit nach der DDR gelegt. Doch führt die zugrundeliegende - und im Laufe der einzelnen Aufsätze wohl begründete - These von der Existenz einer spezifisch durch die DDR geprägten Literatur auch in der Zeit nach der deutschen Einheit immer wieder auch in den "real existierenden Sozialismus" und seine kulturellen Bedingungen und Bindungen der Schriftsteller zurück.

Die Auswahl der Autoren, Kritiker und Literaturwissenschaftler zeichnet sich dabei in diesem Text+Kritik-Band durch eine ausgewogene "Ost-West-Mischung" aus. Eine einseitige Perspektive auf das Themenfeld wird dadurch vermieden. Die Aufsätze behandeln nicht nur exemplarisch einzelne ostdeutsche Autoren wie Heiner Müller und Thomas Brussig oder aber die umstrittene Publizistin Daniela Dahn. Auch die wichtigsten Bereiche des Literaturbetriebs werden diskutiert: Messen und Buchhandlungen, der ostdeutsche Aufbau Verlag, das "vermeintliche Fortleben ostdeutscher Literaturkritik" oder auch Zeitschriften- und Verlagsprojekte der "Szene" nach 1989. In einer Bestandsaufnahme der beiden nach wie vor getrennten deutschen Literaturgebiete wird schließlich der meist "mittelmäßigen westdeutschen Popliteratur" (Iris Radisch) eine "poetische, tragische und im besten Sinn politische" junge ostdeutsche Literatur gegenübergestellt. Das weckt Lust zum Lesen und Nachprüfen.

Interessant ist zudem die unterschiedliche Beurteilung der Problematik der DDR-Intellektuellen und ihres Verhältnisses zum Sozialismus. Beatrix Langner beschreibt die - nach wie vor sehr gegensätzliche - Rezeption Christa Wolfs in Ost und West. Während sich das westdeutsche Feuilleton, allen voran die F.A.Z., der "fremden Last, die zu tragen man weder Mut noch Neigung hatte" ohne Bedauern entledigte, wird Christa Wolf laut Langner im Osten Deutschlands weiterhin "und ohne nennenswerten Wirkungsverlust als Vertreterin einer authentischen Subjektivität gelesen - und geliebt."

Immer wieder fällt in den einzelnen Artikeln der Name Christa Wolf, stellt doch die bekannteste der DDR-Autoren eine, wenn nicht die Schlüsselfigur in der literaturpolitischen Auseinandersetzung dar. Vielleicht, weil die besonders enge Verflechtung von Biografie und Zeitgenossenschaft in ihren Texten und ihr nachdenklich-elegischer Ton die Rezeption seit Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit besonders zu polarisieren pflegen. Eine der Kritikerinnen, die unmittelbar nach der Wende mit großer Entschiedenheit auf Christa Wolf "einprügelten", ihr einen von den zwei deutschen Diktaturen geprägten "autoritären Charakter" und "Realitätsblindheit" bescheinigten, meldet sich interessanterweise auch hier wieder zu Wort. Frauke Meyer-Gosau liefert Beobachtungen zur sich wandelnden Gemütslage in Ost und West. Sie resümiert dabei das "Desaster der deutsch-deutschen Verkennung [...] in den ersten Nach-Wende-Jahren" - an dem sie doch selbst maßgeblich beteiligt war! - ebenso wie die darauf folgende "Ostalgie". In Christa Wolfs Buch "Medea" kann Meyer-Gosau, trotz verschiedener literaturwissenschaftlicher Studien zur hochgradigen Vielschichtigkeit des Romans, bezeichnenderweise auch jetzt noch nicht mehr als eine platte Allegorie sehen. Verdienst ihrer Bestandsaufnahme der ostdeutschen Literatur ist in diesem Band allein der nachdrückliche Hinweis auf Autoren wie Ingo Schulze und Wolfgang Hilbig. Ein Autor wie Hans Löffler bleibt freilich unerwähnt. War Löffler schon in der DDR durch alle gängigen Rezeptions-Raster gefallen, scheint sein ausgeprägter Sprachästhetizismus sich bis heute der Einordnung in die Schublade "ostdeutsche Literatur" zu widersetzen. Als Außenseiter jedoch wird er kaum zur Kenntnis genommen.

Zu einer ähnlichen Wertung wie Meyer-Gosau gelangt auch Iris Radisch in ihrem Aufsatz zur deutschen Literatur der neunziger Jahre in Ost und West. Bei Radisch hat der Name Wolfgang Hilbig sogar das Potenzial, eine Art Gegengeschichte zur Geschichte der DDR-Literatur zu schreiben, war er doch "der erste, der sich literarisch dahin wagte, wo bis dato noch kaum jemand war: in die DDR nach ihrem Untergang." Tot, kalt und grau, so wie es war, beschreibe er dieses Land, "auf dass die Welt die Wahrheit über diesen Staat nicht nur aus den lustigen Onkel-Geschichten von Hermann Kant und den zerknirschten Trostbrevieren der Christa Wolf kennt." So richtig das Lob eines Wolfgang Hilbig auch sein mag, auch hier geht es wieder zu Lasten einer unverkrampften Perspektive auf das Werk derjenigen Autoren, die, wenn zwar nicht mit dem Staat DDR, so doch mit dessen Utopie des Sozialismus sympathisierten. Es ist schade, dass hier kein Weg der Annäherung zu bestehen scheint. Denn es wäre endlich an der Zeit, wie der Bamberger Literaturwissenschaftler Hans-Peter Ecker einmal formulierte, "eingefahrene Wahrnehmungsgewohnheiten gegenüber der DDR-Literatur aufzugeben und sie endlich auch ästhetisch ernst zu nehmen." Aber vielleicht bedarf es hierfür ja eines weiteren Jahrzehnts.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: DDR-Literatur der neunziger Jahre. Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband.
edition text & kritik, München 2000.
218 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3883776424

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