Der große Rechner im eigenen Kopf

Ulrike Draesner fühlt sich wie ein Teilchen im Quantenstrom

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sohn von Hermes und Aphrodite, so berichtet es die griechische Sage, wurde von den Göttern mit der ihn begehrenden Frau verschmolzen. Der Hermaphrodit, der dabei entstand, spielt eine zentrale Rolle in Ulrike Draesners zweitem Roman. Indem er beide Geschlechter in sich vereint, hat der Zwitter eine Ganzheit platonischer Qualität. Androgyne Wesen wirken zutiefst verstörend, wie eine Provokation, faszinierend und abstoßend zugleich.

Anita, zweite Tochter von Holger und Ingrid, wird als Zwitter geboren eine Katastrophe für die Eltern, die nach dem Krieg als Flüchtlinge ins Städtchen kamen und alles tun, um nicht aufzufallen, um dazuzugehören. Mit Operationen und Medikamenten legt man das Kind auf ein Geschlecht fest. Anita wächst zu einer Frau von charismatischer Schönheit heran. Ihre Besonderheit aber hat die Familie geprägt, insbesondere die ältere Schwester Aloe, die immer im Schatten der Jüngeren stand und noch als Erwachsene auf sie bezogen ist wie auf einen "gigantischen Magneten".

Der Romantitel "Mitgift" meint das familiäre Erbe, das Aloe wie alle anderen mit sich herumträgt. Die Assoziation Gift ist durchaus beabsichtigt. Familiäre Abhängigkeit treibt in "Lichtpause", Ulrike Draesners erstem Roman (1998), ein junges Mädchen in den Freitod. Auch "Lück", ihr Text für den Bachmann-Preis 2000, handelt vom Gefängnis Familie und liest sich wie eine Vorstudie zu "Mitgift". Der Roman selbst ist keine Ich-Erzählung wie "Lück", aber ebenfalls aus der Sicht der älteren Schwester berichtet, in rückblickender Selbstanalyse. Das Familiengeheimnis und die Tragödie, in der es endet, kommen erst nach und nach ans Licht. Die verschiedenen Zeitebenen sind klug ineinander gefügt. So wird sichtbar, wie die Hassliebe zur Schwester tatsächlich vergiftend wirkt auf das Selbstbewusstsein, auf die Karriere, auf die Beziehung zu den Eltern und zu dem Astrophysiker Lukas. Der Neid auf Anitas modelgleiche Schönheit treibt Aloe in die Magersucht. Nach und nach erkennt sie: Was die Familienmitgift wirklich für sie bedeutet, ist eine Sache der Interpretation. Wahrheit gibt es hier nicht. Die Erinnerung schafft ihre eigene Wirklichkeit.

Gleiches gilt für den Roman als Ganzes. Ulrike Draesner ist als Lyrikerin bekannt geworden (zuletzt Hölderlin-Förderpreis 2001). Sie hat einen wissenschaftlichen Blick, nicht nur in der Präzision der Beobachtung; sie zeigt, wie die neuen Bilder aus der Genetik oder der Astrophysik unsere Welterfahrung verändern; will "durch Algorithmen die Welt in Sprache übersetzen". In einer "Radikalübersetzung" der Shakespeareschen Sonette hat sie elisabethanische Liebesrituale in die Welt des Klonens übertragen. So kann auch "Mitgift" als der kühne Versuch gelesen werden, familiäre Verstrickungen auf der Meta-Ebene der Naturwissenschaft abzubilden und dingfest zu machen. Zu zeigen, "daß man immer alles zugleich ist. Alles, was man einmal war. Und was man werden könnte. Wie ein Teilchen im Quantenstrom. Warum auch nicht. Denn warum sollte der Mensch als Ganzes etwas anderes sein als alle seine Teilchen?"

Bei allem Respekt vor der geballten Intelligenz auf diesen fast vierhundert Seiten und der sorgfältigen, leitmotivisch verstrebten Konstruktion das Ergebnis des Experiments ist eine Prosa, die nicht geerdet ist. Sie hat Schwierigkeiten, zu kommunizieren. Trotz all der großen Gefühle und Tragödien hält sich der Sprachstrom den Leser vom Leibe. Die Figuren sprechen alle gleich in sperrigen, mit Wissen überfrachteten Dialogen; sie bleiben Kopfgeburten der Autorin, die vielleicht doch im Grunde Lyrikerin alle gleichermaßen einhüllt in ihre intellektuelle Metaphorik. "Aloe fühlte sich aufgewühlt, ein Rudel Elektronen, das nur in rasender Bewegung ein Atom ergab, eine zerklüftete Einheit." Dann wieder, wie um ein Gegengewicht gegen den "großen Rechner und Schieber im eigenen Kopf" zu schaffen, kippt Draesners Sprache ins gezielt Triviale, Unliterarische, bewußt Heutige. "Als wäre er einer der angebissenen Äpfel von Apple hing der Mond im Fenster. Aloe griff sich kurz an die Hose, die Binde saß." Sie beschreibt präzise, aber sie schafft kein Leben. In raschem Wechsel heben sich die Bilder gegenseitig auf. So bleibt es blass im Kern dieses hermaphroditischen Glasperlenspiels.

Titelbild

Ulrike Draesner: Mitgift. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2002.
378 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3630871178

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