Verweile doch, du bist so schön

Ruth Walz hält Peter Steins Faust-Inszenierung in Bildern fest

Von Judith LiereRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Liere

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

21 Stunden Aufführungsdauer, 2 Bühnen, 35 Schauspieler, beinahe ein Jahr Probenzeit und Kosten von 30 Millionen Mark: Peter Stein hatte sich viel vorgenommen, soviel wie noch kein anderer Regisseur vor ihm in der deutschen Theatergeschichte. Er inszenierte Goethes "Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil" in einer völlig ungestrichenen Fassung, alle 12.110 Verse. Als unspielbar galt das Werk in dieser Form bisher, aber der Theaterlegende Peter Stein ist die Umsetzung bekanntlich gelungen, Premiere war auf der EXPO 2000 in Hannover. Mit dem eigens gegründeten Berufstheater "Faust Ensemble GmbH", das insgesamt aus rund 80 Mitwirkenden bestand, darunter großen Schauspielern wie Bruno Ganz als Faust, realisierte er sein Mammutprojekt. Die Berliner Schaubühne, deren künstlerischer Leiter Stein lange Jahre war, wollte es nicht mittragen, weshalb es zum Bruch kam und der Regisseur die Inszenierung mit Hilfe von Sponsorengeldern selber auf die Beine stellte. Den Aufführungen in Hannover folgten ausverkaufte Vorstellungen in Berlin und Wien, bevor die Inszenierung am 16. Dezember 2001 zum letzten Mal gezeigt wurde.

Peter Stein lieferte nach eigenem Verständnis keine Interpretation des Werkes: Er wolle lediglich darstellen und begreifen, die Interpretation sei Sache des Publikums. Und so arbeitet seine Inszenierung nicht mit kapriziösen Regieeinfällen, sondern setzt vor allem auf Sprache. "Faust ist das am unglaublichsten und am weitesten Entwickelte, was man sich an Musikalität, an Musikalität der Sprache vorstellen kann. Dieses Stück hat einen besonderen Sound", so Peter Stein.

Doch was, wenn genau dieser Sprach-Sound fehlt? Hat die Inszenierung auch einen Reiz jenseits der schön deklamierten Worte? Ja, den hat sie, das belegen die Fotografien von Ruth Walz' in dem bei DuMont erschienenen Bildband zur Inszenierung. Die Fotografin liefert eine Art Live-Mitschnitt der Aufführung, keine gestellte Probensituation. Die Bilder sind eingefangene, kurze Momente, die sich in ihrer Folge zum Ganzen fügen. Wie bei einem Comic - nur ohne Sprechblasen - erzählen sie ihre Geschichte, führen den Betrachter, als säße er im Publikum. Vom Blick durch den Eingang in den Zuschauerraum bis zur Himmelsspirale wird so beinahe jede einzelne Szene wieder gegenwärtig. Von doppelseitigen Totalaufnahmen bis zur Aneinanderreihung kleiner quadratischer Bilder, die in ihrer Fülle die Dynamik der Massenszenen darstellen, reicht das Spektrum der Bilder. Detailaufnahmen zeigen die Mimik des großartigen Bruno Ganz in all ihrer Vielfalt, zeichnen Verwandlungen und Stimmungswechsel seines Faust nach, verschwommene, unscharfe Bilder sein Zittern und seine Verzweiflung.

Stein zitiert in seiner Inszenierung Bilder von Botticelli, Goya oder Velázquez; Ruth Walz Fotografien schaffen noch einmal eigene Bezüge, wenn sie Licht und Deko ausnutzen und der Bildausschnitt so gewählt ist, dass die Schauspieler aussehen wie auf einem Rembrandt-Gemälde. Walz fotografiert in Farbe und Schwarzweiß, steht mal am Rand der Bühne, mal mitten im Geschehen, greift Lichtwechsel und Farbspiele auf, wechselt zwischen Statik und Dynamik - und entwirft dadurch eine abwechslungsreiche und höchst spannende visuelle 'Nacherzählung' der Faust-Dichtung.

Kritiker warfen Peter Stein vor, seine Inszenierung sei fantasielos und nicht mehr als eine Durchhalteübung für Bildungsbürger - auf die Fotografien von Ruth Walz trifft dies sicher nicht zu. Eine schöne Dokumentation, deren Betrachtung im Unterschied zur Aufführung keine Marathonsitzung von 21 Stunden erfordert, aber trotzdem die Atmosphäre der Inszenierung erinnern lässt. Sogar ganz ohne Sprache.

Titelbild

Goethes Faust. Peter Steins Inszenierung in Bildern.
DuMont Buchverlag, Köln 2001.
120 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3770156285

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