Die Masken des Erzählers

Alain Claude Sulzers Novelle "Annas Maske”

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die morbide, ja durchaus nekrophile Anziehungskraft, die von Totenmasken ausgehen kann ist nicht erst seit der beispiellosen Erfolgsgeschichte der Inconnue de la Seine, deren enigmatisches Lächeln in Tausenden von Abgüssen reproduziert wurde, allgemein bekannt. Oft wirkt das Gesicht heiter, entrückt, fast glücklich, ein Eindruck, der nur durch das Wissen um Herkunft und Entstehung des Abbilds wieder relativiert und in ein irritierendes Spannungsverhältnis gesetzt wird. In der Maske wird der Tod ästhetisiert, das Sterben zu Kunst und das Gesicht des Sterbenden zu seinem letzten Denkmal, zum in der hora mortis zur Essenz eines Lebens geronnenen Zeichen.

Dieser Faszination erliegt auch Fritz Kroll, ein junger "Kopfabschneider", wie man Vertreter dieses Gewerbes in Wien einst nannte, als der die Maske der gefeierten Sopranistin Anna Sutter abnehmen soll. Anna Sutter wurde von ihrem vor Eifersucht fast wahnsinnigen Geliebten, dem Dirigenten und Komponisten Aloys Obrist, durch einen Schuss in der Brust getötet. Stuttgart und die Hofoper trauern um ihre beste Sängerin, Zeitungen berichten tagelang, Hunderte nehmen an ihrem Begräbnis teil. Ihre Anziehungskraft scheint nach ihrem Tode, selbst nach dem endgültigen Verstummen ihrer Stimme ungebrochen. Fritz Kroll wird vom Gesicht der Toten verfolgt, ein Antlitz, das er nie lebendig gesehen hat, das er jedoch in eine Form gebracht hat, die in hundertfachen Kopien verkauft wird. Obrist, ihr ehemaliger Liebhaber hat die Zurückweisung der selbständigen und unabhängigen Diva nie verwunden. Nach der Tat richtet er seinen Revolver gegen sich selbst und tötet sich mit den verbleibenden sechs Kugeln. Die dritte Gestalt im Bannkreis der Sopranistin ist ihr in Bewunderung ergebenes Hausmädchen Pauline. Sie übersteht die Beziehung zu Anna Sutter unbeschadet, ist jedoch in seltsamer Weise für ihren Tod mitverantwortlich.

Anna Sutters Gesicht ist nicht nur im Tod zur Kunst geworden, auch in ihrem Sterben imitierte das Leben die Kunst. Ihre Paraderolle an der Hofoper, die "Carmen", sollte ihr zum Schicksal werden. Wie sie als Zigeunerin ihren Liebhaber Don José auslachte, als er sie bat, zu ihm zurückzukehren, so wies Anna Sutter auch ihren Verehrer Obrist zurück, zuletzt an jenem verhängisvollen Nachmittag des 29. Juni 1910. Diesmal endete die Szene auch wie in der Oper, und als der Vorhang fiel, lagen zwei Leichen auf dem Parkett. Allerdings gab es diesmal keinen Applaus, keine Zugabe, keine Verbeugungen der Darsteller. Das Leben ist ein äußerst mittemäßiger Imitator der Kunst.

Aus dieser künstlerisch durchaus reizvollen Begebenheit hat der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer eine "Novelle" komponiert, bei der die Grenzen zwischen Fiktion und Tatsache, zwischen Leben und Kunst bewusst vage gehalten werden. Originaldokumente aus Briefen, Rezensionen, dem "Carmen"-Libretto, Zeitungsberichten, Gedichten und biographischen Artikeln wechseln sich mit erzählenden Passagen ab, wobei die Gestalt des Bildhauergehilfen Kroll sowie die der Hausangestellten Pauline (die für die Polizei die Haupzeugin in dem Mordfall darstellt) die beiden Hauptperspektiven liefern. Auch wenn die Verhältnisse klar erscheinen, geht der Mordfall nicht so ohne weiteres auf. Wer rief Aloys Obrist am Nachmittag vor der Tat an? War der Anruf der Grund für sein folgendes seltsames Verhalten? War außer dem Täter noch jemand bei der Tat zugegen? Hätte der Mord so verhindert werden können? Diesen Fragen geht Sulzer mit peinlicher Genauigkeit nach und präsentiert dem Leser so am Ende eine durchaus spannende Auflösung, die zeigt, dass die moralische Rollenverteilung bei dieser Opernimitation mit tödlichem Ausgang doch nicht so eindeutig war wie sie zuerst schien.

Titelbild

Alain Claude Sulzer: Annas Maske. Novelle.
Edition Epoca, Zürich 2001.
117 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3905513234

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