Lediglich ein kurzes Vergnügen

Heinz Schlaffers Essay "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur”

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um dies gleich vorwegzunehmen: Heinz Schlaffers Buch ist keine Geschichte der deutschen Literatur, auch keine kurze, wenngleich Verlagsankündigung und Klappentext dies zu suggerieren suchen und auch der (nicht eindeutige) Titel diese Möglichkeit zuzulassen scheint. Tatsächlich handelt es sich um einen systematisch angelegten, klug komponierten und gelegentlich polemisch zuschlagenden Essay, dessen Hauptthese besagt, die Geschichte der deutschen Literatur sei ausgesprochen kurz; sie umfasse keineswegs die stolzen 1200 Jahre, denen höchstens vielbändige Kompendien gerecht würden, sondern allenfalls 150 bis 200 Jahre. Diese These steht natürlich quer zu eigentlich allen bisher vorgelegten Literaturgeschichten der letzten Jahrzehnte, vor allem aber den sozialgeschichtlich ausgerichteten Großprojekten der letzten zwanzig Jahre. Kein Wunder, dass Schlaffers schmales Bändchen sofort lebhafte Diskussionen ausgelöst hat, wobei auffällt, wie konträr die meisten Reaktionen sind, die von unverhohlener Euphorie bis zu erbitterter Ablehnung reichen. Nicht auszuschließen, dass viele Leserinnen und Leser zu dieser Publikation greifen, da sie eine geschlossene, überschaubare, "synthetische" Sicht der deutschen Literatur zu versprechen scheint - eine Sicht, welche die oft zehnbändigen, von Dutzenden von Autorinnen und Autoren verfassten Literaturgeschichten nicht bieten.

Doch eine Literaturgeschichte, die auf Werke, Genres oder Dichterbiographien einginge, ist dies, wie gesagt, nicht. Schlaffer hebt vielmehr auf jene Aspekte ab, die seiner Meinung nach fast immer zu kurz kommen oder gänzlich ignoriert werden. Er beginnt, provokativ genug und in bewusster Abkehr von gängigen Berührungsverboten, mit dem Begriff des Deutschen, der seit 1945 bewusst auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens ausgeblendet worden sei, um so die fatale Fixierung auf das Nationale zu überwinden. Schlaffer verfolgt allerdings keine Rückkehr zur nationalen Perspektive, doch besteht er darauf, dass es vorrangig darauf ankomme, das Eigentümliche, das Spezifische der deutschen Literatur herauszufiltern. Dies sei geradezu konstitutiv für den Gegenstandsbereich der deutschen Literaturwissenschaft und ebenso entscheidend für eine Literaturgeschichte, die die besonderen Bedingungen des literarischen und kulturellen Lebens in Deutschland erfassen wolle. In gewisser Weise erinnert diese Betonung an den 'deutschen Sonderweg', so wie er jahrzehntelang in der Geschichtswissenschaft diskutiert wurde. Gerade im Vergleich zu anderen Nationalliteraturen (etwa zur italienischen, spanischen oder französischen) fällt auf, dass es erst mit reichlicher Verspätung, d.h. erst nach 1750 zu einer kontinuierlichen Tradition, zu einem ständigen Weiterwirken wichtiger Werke gekommen sei. Einzelne Werke von unbestreitbarem Wert (wie die Epen des Mittelalters und der Minnesang) seien in Deutschland aufgrund verschiedener Faktoren jahrhundertelang nicht rezipiert worden. Erst im 19. Jahrhundert habe eine nationalistische Geschichtsschreibung auf diese (freilich auch dann nicht gelesenen) Werke zurückgegriffen, um eine imposantere Tradition zur Untermauerung der nationalen Hegemonieansprüche zu konstruieren. Eine wirklich lebendige, von Lesern, Autoren oder Bildungsinstitutionen getragene Tradition habe dem nicht entsprochen. Da Deutschland jahrhundertelang politisch, sozial und kulturell zerklüftet gewesen sei, habe es dafür keine günstigen Voraussetzungen gegeben.

Wenn es dann doch zu einem literarischen Aufschwung, zum Finden des "eigenen Tones" und binnen weniger Jahrzehnte zu einer unbestrittenen Blütezeit gekommen sei, so habe dies an einer besonders günstigen Verschränkung verschiedener Faktoren gelegen. Schlaffer hebt vor allem bildungssoziologische Umstände hervor, namentlich die Herkunft vieler Autoren aus dem Milieu protestantischer Pfarrhäuser sowie das Erbe des Pietismus, also einer verinnerlichten und individualisierten Form von Religiosität, die selbst bei Autoren wie Goethe und Schiller (die nicht aus protestantischen Pfarrhäusern stammen) wirksam ist, wie Schlaffer detailliert nachweist. Dass es zu einem derartigen, nachgerade erstaunlichen Höhepunkt gekommen sei, sei letztlich, so Schlaffers zentrale These in diesem Zusammenhang, der religiösen Energie dieser Autoren zu verdanken, einer vom Religiösen aufs Literarische und Kulturelle umgeleiteten Energie. Zur kulturellen Homogenität habe freilich auch dieser erste Höhepunkt nicht geführt; die bereits erwähnte nationalistische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts habe die wahren Impulse von Klassik und Romantik verfälscht und im Namen von Volk, Rasse, Sprache oder politischer Schicksalsgemeinschaft umgedeutet.

Nach der Stagnation des 19. Jahrhunderts, in dem sich deutsche Autoren, anders als die französischen oder englischen, nicht den Problemen der Moderne öffnet (die Ausnahme Büchner wird gut 50 Jahre einfach ignoriert) sieht Schlaffer für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einen zweiten Höhepunkt, den er allerdings nicht den Ansätzen der literarischen Avantgarde zuschreibt, sondern - analog zum ersten Höhepunkt - bildungssoziologischen Faktoren, in diesem Fall den Emanzipationstendenzen der katholischen und vor allem deutsch-jüdischen Intelligenz, vor allem in den Zentren Wien und Prag. Namentlich für die deutsch-jüdische Kultur gewinne die (an Aufklärung und Klassik ausgerichtete) Bildung eine fundamentale, quasi religiöse Rolle. Mit dem Auslöschen dieser Gruppe setze dann der Niedergang der deutschen Literatur ein, die Produktionen von 1950 bis zur Gegenwart hielten keinerlei Vergleich mit den vorangegangenen Höhepunkten aus. Somit sei die Geschichte der deutschen Literatur, die erst Mitte des 18. Jahrhunderts verspätet begonnen habe, 1950 - wie die polemisch zugespitzte Hauptthese lautet - zu Ende gegangen. Ganze sechs Seiten verwendet der Autor auf das "geschwächte Fortleben" der deutschen Literatur der letzten fünfzig, sechzig Jahre. Die Frage nach "versteckten Energien" wird nicht einmal gestellt, die Problematik einer allzu frühen (und damit möglicherweise falschen) Bewertung wird zwar eingeräumt, aber nicht allzu hoch veranschlagt. Verantwortlich für den Niedergang macht Schlaffer vor allem "Sprachverbote" sowie ausländische Einflüsse und die allgemeine, auch in Österreich und der Schweiz vorherrschende Tendenz zum "moralischen Zeigefinger"; "Gesinnungsliteratur" oder literarisierte Zeitungsartikel verbauten die Chancen zu großer Literatur. Ein eigener Ton werde so nicht gefunden. Nur gelegentlich - etwa bei Arno Schmidt, Günter Grass oder Heiner Müller ließen sich Anzeichen von ungezügelter Phantasie, schwarzem Humor oder politischem Zynismus ausmachen - für Schlaffer offensichtlich positive (aber nicht näher ausgeführte) ästhetische Kriterien, doch zumeist seien solche Ansätze dann wieder zurückgenommen oder "zu Schmunzeleffekten verkleinert" worden.

Gerade diese reichlich rüde Abkanzelung der gesamten Gegenwartsliteratur (in allen deutschsprachigen Ländern) ist es, die zu denken geben sollte. Das Problem besteht nicht so sehr in einer negativen Veranschlagung, als vielmehr darin, dass Schlaffer nicht einmal den Versuch unternimmt, die literarische Entwicklung seit 1950 angemessen zu analysieren; statt dessen misst er sie vorschnell an den früheren Höhepunkten und unterwirft sie den eigenen (idiosynkratischen) ästhetischen Kriterien, die nur en passant, in Form polemischer Seitenhiebe, ins Spiel gebracht werden. Es wäre dagegen wichtig gewesen, die hinter der literarischen Entwicklung stehenden Konstellationen so sorgfältig und produktiv zu untersuchen, wie Schlaffer dies nicht nur in seinem brillanten Hauptstück, der Analyse des 18. Jahrhunderts, sondern auch hinsichtlich der missglückten Anfänge tut. Gerade die Brüche, Kontinuitäten und Widersprüche, wie er sie für das 16. bis 17. Jahrhundert beschreibt, machen das eigentlich Spannende an diesem Literaturgeschichtsessay aus, und tatsächlich lässt sich eine solche übergreifende, notwendig synthetische Perspektive in den gewichtigeren Literaturgeschichten nicht so ohne weiteres ersehen. Doch dies wäre auch für die Gegenwart, also den Fixpunkt der literaturgeschichtlichen Bemühungen zu leisten. Dabei wäre freilich zu fragen, ob man sich dabei so vorrangig (wenn nicht ausschließlich) an Aspekten ausrichten kann, die Schlaffer als vernachlässigt betrachtet, dem "Eigentümlichen" oder Spezifisch Deutschen sowie dem (nicht näher ausgeführten) "ästhetisch Geglückten". Es fällt auch auf, dass Schlaffer weitgehend darauf verzichtet, konkrete Beispiele für die ästhetische Qualität einzelner Werke anzuführen, sieht man von Goethes Werther oder einigen pietistischen Liedern ab. Schlaffers abschließende Hoffnung, der Leser möge sich wieder der deutschen Literatur zuwenden (statt dickleibigen Literaturgeschichten), mag so ein frommer Wunsch bleiben.

Titelbild

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446201491

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