Autistischer Geruchstraum

Björn Kerns Debutroman "KIPPpunkt"

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe von der Provence geträumt und lauter Halbtote gefunden." Dieses Fazit zieht der neunzehnjährige Karsten nach seiner Zivildienstzeit in einem Heim für Behinderte und psychisch Kranke. Mit dem Klischee "Thymian Majoran Rosmarin" im Hinterkopf ist er nach Aix gereist, doch in seinem Alltag erwartet ihn die permanente seelische und physische Überforderung als Mädchen für alles. Er muss steriles, geschmackloses Essen an die Patienten verteilen, ihre Exkremente mit scharfen Chemikalien aufputzen und wird dabei für die Kranken zur Projektionsfläche ihrer Psychosen. Allmählich setzt sich in Karsten das Gefühl völliger Hilflosigkeit fest, und er kehrt mit einem regelrechten Geruchstrauma nach Deutschland zurück.

Bei seiner Freundin Anna findet Karsten Trost. Ihr darf er stundenlang all die unverarbeiteten Geschichten erzählen. Diese Episoden bilden den Kern der Ich-Erzählung. Karsten findet eine eigene, mal poetische, mal drastische Sprache für seine Vergangenheit. So fühlte er sich als "Autowaschanlage", als er die apathischen Greise in der Badewanne wie am Band abfertigen musste. Besonders gelungen sind die Passagen, in denen Karsten den Riss zwischen der Wirklichkeit und seinem Innenleben offenlegt, ohne sich dessen immer bewusst zu sein.

Mit fortschreitender Erzählung wird dem Leser klar, dass Karsten Anna zunehmends für sich vereinnahmt und geradezu autistische Züge annimmt. Sobald Anna ihn in seine Schranken weist, zieht er sich beleidigt zurück und fühlt sich von der ganzen Welt unverstanden und verlacht, ohne die Schuld bei sich selbst zu suchen. So spitzt sich die Situation zu, als Anna eben aus diesem Grund die Beziehung beendet und Karsten sich nach einigen Wochen der Verzweiflung schließlich fallen läßt. Nach einem Selbstmordversuch kehrt Anna zwar zurück, doch auch sie ist Karstens zum Selbstläufer gewordenen Innenleben nicht mehr gewachsen. Aus blindem Protest gegen die Welt nimmt er an linken Umweltdemonstrationen teil und stilisiert sich selbst zum Märtyrer einer Welt, in der den Vätern der Börsenkurs wichtiger ist als das Leben ihrer Söhne.

Von Seite zu Seite wird dem Leser stärker bewusst, dass Karsten sich wilde Szenarien ausmalt, in denen er der Held und Rächer der Gerechtigkeit jenseits aller Realität ist, und vor allem, dass Karsten den KIPPpunkt der Kontrolle über sich selbst längst überschritten hat. Der Protagonist schwankt zwischen Ohnmacht und jugendlichem Größenwahn und hat dabei den Blick für das Wesentliche verloren: Er wird selbst zu dem "Wutkreisel", als den er manch psychisch Kranken in Frankreich erlebt hat.

Ausgangspunkt dieses kurzen Romans ist der Tag einer Urteilsverkündung vor Gericht. Erst gegen Ende der Erzählung wird klar, was der Protagonist verbrochen hat. Der Leser erlebt das Geschehen durch den Filter von Karstens Wahrnehmung, unterbrochen von rasch wechselnden Rückblicken in die verschiedenen Stationen der Vorgeschichte. Darin liegen sowohl die Stärke als auch eine kleine Schwäche des Buches. Zwar weiß der Leser absatzweise nicht, ob Karsten nur phantasiert oder reale Geschichten erzählt. Doch gerade durch diesen Erzählstil kommt Karstens Schizophrenie um so stärker zur Geltung: Der Aufenthalt in der Provence wird zum Auslöser einer Sinnkrise, in der es für den jungen Mann keine Notbremse mehr gibt. Abgeschlossen von der Außenwelt beginnt ein Teufelskreis, der sich zu so abstrusen Vorstellungen steigert wie "Ich würde mit dem Geld eine Killerstab anheuern und New York auslöschen, mindestens."

Kerns Erzählung lebt vom Kontrast aus Karstens drastischer Weltsicht und seinen poetischen Träumereien, der Ausdruck in seiner sensiblen Geruchswahrnehmung und einer starken Bildlichkeit findet. So steht Karsten handlungsunfähig vor einem Eimer mit scharfem Chlorwasser, in dem ein abgestürzter Vogel erstickt und sich dann in der zischenden Brühe auflöst. Später erholt er sich bei einem einsamen Ausflug in die sonnenverbrannte Landschaft der Provence, oder indem er sich Anna herbeisehnt und den Duft ihrer Haare erahnt. Kern erzählt einfühlsam und läßt tief in die Psyche eines orientierungslosen Spätpubertierenden blicken, ohne dabei nach Entschuldigungen für die Verfehlungen seines Helden zu suchen. So gelingt dem jungen Autor ein unaufdringliches Psychogramm eines Menschen, der zwischen dem Ende der Schulzeit und dem Beginn seines Studiums den Anschluss an die Welt verliert und damit etappenweise sein eigenes Leben ruiniert.

Titelbild

Björn Kern: KIPPpunkt. Roman.
dtv Verlag, München 2001.
124 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3423620625

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