Boys will be boys

Irvine Welsh wandelt in seinem neuem Roman "Glue" auf "Trainspottings" Spuren

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist wohl nicht Klebstoff, der die vier Freunde Terry, Carl, Billy und Gally seit ihrer frühesten Jugend zusammenhält. Aufgewachsen in den "schemes" von Edinburgh, einer Siedlung mit Sozialwohnungen, die gebaut wurde, um die örtlichen Slums zu ersetzen, werden Drogen, Alkohol, Gewalt, Fussball und Sex schon früh zum Lebensinhalt der Freunde - und sind letztendlich auch das, was die Freundschaft vier Jahrzehnte lang halten lässt.

"Glue", Irvine Welshs vierter Roman, ist episch erzählt, aber klar strukturiert: jede Dekade, von den Siebzigern bis zur Gegenwart, wird aus der Sicht eines jeden der Freunde geschildert. Sie berichten vom Aufwachsen in den "schemes", von der Loyalität, die man dort untereinander zeigt, von ihren Erfahrungen und Geheimnissen, aber auch von den Dingen, die sie als Menschen voneinander unterscheidet.

Terry, seit seinen Jugendjahren arbeitsscheu und sexbesessen, könnte sich kaum mehr von Billy unterscheiden, einem aufstrebendem, geschäftstüchtigem Boxer. Nach der gemeinsam verbrachten Jugend entwickeln sich die vier Freunde in verschiedene Richtungen: Terry versucht sich als Kleinkrimineller und bleibt Schürzenjäger, Billy erkämpft sich eine Karriere inner- und außerhalb des Boxrings, Carl wird ein weltweit gefragter Techno-DJ und Gally, der stets Glücklose und Übersensible, gerät von einer persönlichen Katastrophe in die nächste. Die Freunde verlieren Jobs, Perspektiven, Ehefrauen, Kinder und

Eltern, aber nie sich - zu eng sind die Bindungen, die die gemeinsame Jugend geschaffen hat. Allen gemeinsam ist der Wunsch, das Stigma der "schemes" loszuwerden, das Stigma der vermeintlich nichtsnutzigen Arbeiterklasse Edinburghs. Die Zeiten ändern sich, die Musik entwickelt sich vom Punk zum Techno, statt Speed wird Ecstasy zur bevorzugten Droge, aber die Freunde bleiben der Losung der "schemes" stets treu: sei für deine Freunde da, schlage keine Frauen und verrate niemals jemanden - egal, ob Freund oder Feind.

Irvine Welsh taucht in "Glue" ähnlich tief wie in "Trainspotting" in jene Welt Edinburghs ein, die nicht weiter entfernt vom Image der Stadt als kulturelle Hochburg sein könnte; eine Welt, in der Gewalt, Perspektivlosigkeit und Drogen regieren, in der jede Form von Schwäche böse Folgen haben kann. So traut sich Gally als Teenager nicht, ein Mädchen anzulächeln, das ihm gefällt, aus Angst, seine Freunde könnten ihn für homosexuell halten - eine Todsünde in der vom Männlichkeitswahn geprägten Welt der "schemes". Frauen treten hier lediglich als Randfiguren in Erscheinung, als Mütter, die dem fast 40jährigen Sohn noch immer die Wäsche waschen, als duldsame Ehefrauen, als willige Sexpartnerinnen. Erst in einem späten Abschnitt des Romans, als die Freunde bereits aus ihrem Leben im Jahr 2000 berichten, verändert Welsh seine Darstellung von Frauen - sie werden zu äußerst selbstbewussten "Ladettes", die den Männern in Sachen Alkoholkonsum und Sexualverhalten in nichts nachstehen.

Verrat und Rache bleiben die dominanten Themen: Aufgrund einer heftigen Schlägerei nach einem Fußballspiel wird Gally verhaftet und unschuldig der schweren Körperverletzung angeklagt. Getreu der "schemes"-Losung gibt Gally den wahren Täter nicht preis und sitzt die Haftstrafe ab, die eigentlich seinem alten Feind Doyle galt. Jahre später wird es Doyle sein, der Gally Frau und Kind ausspannt. Gally rächt sich auf brutalste Weise, als er aufgrund seiner Aids-Erkrankung sowieso nichts mehr zu verlieren hat und seinen Selbstmord plant.

Welsh überzeugt vor allem mit der Strukturierung seines Romans. Die multiplen Erzählperspektiven ermöglichen es ihm, auf eine Reihe von Plots im Verlauf des Romans immer wieder zurückzugreifen und dem Roman damit das Welsh-typische Tempo zu geben. Am Rande tauchen altbekannte Charaktere wieder auf: Renton, Sick Boy, Spud und Begbie, die Protagonisten aus Welshs Bestseller "Trainspotting", treiben in Edinburgh noch immer ihr Unwesen. Welsh bleibt sich und seinem Stil in "Glue" treu und bearbeitet sowohl sprachlich als auch thematisch altbekanntes Terrain. Und warum auch nicht? Never change a winning game.

Titelbild

Irvine Welsh: Glue. Roman.
W. W. Norton & Company, London 2001.
470 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 0224061267

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Irvine Welsh: Klebstoff. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Clara Drechsler, Harald Hellmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
672 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3462030914

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