Angefüllt mit herausgerissenen Teilen der Stadt

Andrzej Stasiuk hortet in seinem Roman "Neun" Aufnahmen aus Warschaus Unterwelt

Von Monika von AufschnaiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika von Aufschnaiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Bücher lesen sich wie Filme - so auch Andrzej Stasiuks neuntes Werk "Neun". Ebenso kühl und distanziert wie der Titel ist die Erzählhaltung: Eine Kamera scheint dazwischen zu stehen, deren Aufnahmetätigkeit nur durch Schwenks zu anderen Szenen unterbrochen wird.

Stasiuks Prosa, die Realität, Träume und Todessehnsucht verbindet, ist in seiner Heimat Polen besonders bei der jungen Generation beliebt. Auf Fotos posiert der 42-Jährige mit hochgestelltem Kragen und Zigarette, die Hand in Denkerpose am Kinn - ein literarischer James Dean, rauhbeinig und doch sensibel. Nachdem sich Stasiuk in "Die Welt hinter Dukla" dem polnischen Hinterland widmete, beschreibt er in "Neun" nun das Treiben von sechs Menschen in den grauen Vororten seiner Geburtsstadt Warschau. Zu Beginn der Handlung liegt die Wende rund zehn Jahre zurück. Manche tragen Nike und fahren einen BMW, die große Masse aber hinkt dem Wirtschaftswunder hinterher. Stasiuks Protagonisten sind zwei Kleinkriminelle, ein Drogenhändler, deren Freundinnen und die Stadt selbst, die ihren Bewohnern alle Kraft zu rauben scheint.

"Verdammte Scheiße, ich komm nie an", sagt Protagonist Pawel und fühlt sich, "als glitte ein Wind über seine Eingeweide, als wäre er innen hohl, angefüllt mit herausgerissenen Teilen der Stadt, mit Bruchstücken der Landschaft, als liefe ein beschleunigter Stummfilm durch ihn durch." "Neun" ist kein Stummfilm, sondern ein kriminalistisch angehauchter Livebericht in Anlehnung an den "Film Noir". Stasiuk verfolgt das Prinzip der pausenlosen Aufnahme: Dinge, Personen und Situationen werden dokumentiert, dann und wann fließen philosophisch-melancholische Bemerkungen ein. Die Handlung verschwindet fast in der Flut von Ortsaufnahmen, der Wiedergaben von unaussprechlichen Straßennamen, Trambahn- und Busnummern, Assoziationen und Rückblenden: Pawel, der es vom Reiniger von Fuchskäfigen und Liebediener zum Besitzer eines Unterwäscheladens gebracht hat, muss zwei Millionen Zloty auftreiben. Seine Schuldner sind ihm auf den Fersen, die Wohnung haben sie ihm bereits demoliert. Er versucht es bei Bolek, dem Drogenhändler, der in abgeschmacktem Luxus lebt und sich das Mädchen Syl wie ein Haustier hält. Doch Bolek weist ihn ab. Daraufhin fleht er Jacek um Hilfe an, aber der ist selbst auf der Flucht vor Boleks Leuten. Nach rastlosen Fahrten durch die Betonwüste Warschaus und seiner Vororte, wo Abfall aus vorbeifahrenden Zügen fliegt, endet die Flucht der beiden auf den Dächern über Marszalkowska. Stasiuks Warschau ist eine Stadt ohne Ausweg, eine große Fabrik, in der die Menschen nicht mehr als ein Rädchen sind, sodass die Beschreibung der Fabrikarbeiter symbolisch für alle gilt: "Von der Haltestelle am Denkmal der Pennbrüderschaft ergoss sich eine kompakte Masse von Männern und zog quer über die Kreuzung direkt in die offenen Türen der gelb-blauen Züge: Zabki, Drewnica, Zielonka, Kobylka und Tluszcz bekamen nach der ersten Schicht in der Autofabrik ihre Leute zurück. Die resignierte Ampelanlage zeigte rot, aber sie marschierten wie die alte Arbeiterklasse in geschlossener Formation, in dem heroischen Gefühl, die Welt gehöre immer noch ihnen, und die ewig lächelnden Koreaner von Daewoo seien nur eine Halluzination oder Gestalten aus einem Stück, das endet, bevor es aufhört, komisch zu sein." Für Glück scheint in dieser Stadt kein Platz zu sein, und so träumen die Menschen von Flucht - auch Pawel, der "dachte, er würde versuchen weiterzugehen, weiterzugehen und nie mehr zurückzukehren, aber wie im Märchen blickte er sich um und sah, dass im Osten der Himmel sich rötete, ein purpurfarbener Glanz aufstieg und die schwarzen Umrisse der Stadt sich abzeichneten. Sie waren dunkel und schwer wie Berge. Kulturpalast, Marriot, Terminal, Forum, Intraco und die anderen."

Neben schwarz-weißen Bildern von Depression und "Siff" enthält "Neun" auch kraftvolle, farbige Momente: Wenn etwa Stasiuk Pawels ekelerregende Arbeit mit den Füchsen so plastisch beschreibt, dass man sich selbst eine Zigarette anzünden möchte, um den Gestank zu überdecken. Wenn er Boleks Freundin Syl selbstvergessen tanzen oder Beata Pawel einen esoterischen Vortrag über Gemüse und Energie halten lässt. In diesem Momenten erwacht Stasiuks Prosa zum Leben und man spürt ebenso wie bei den poetisch-philosophischen Bemerkungen, was vermutlich das Anliegen des Autors ist: der unüberwindbare Kontrast zwischen Realität und Träumen. Über allzu viele Seiten hinweg verschanzt sich der Autor jedoch als Berichterstatter hinter seiner Kamera, füllt akribisch Film um Film, ohne sich so recht um die Auswertung des Materials zu kümmern. Da Stasiuk die tristen Zustände so treffend festhält, folgt man ihm anfangs mit Aufmerksamkeit und Interesse. Wiederholungen und Variationen führen jedoch zur Ermüdung: Je mehr austauschbare Szenen einem der zwischen Poesie und Realismus schwankende Kameramann vorführt, desto mehr wünscht man ihm einen pragmatischen Cutter zur Seite, der die Stärken dieses Werks durch Schnitte frei legt.

Titelbild

Andrzej Stasiuk: Neun. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
297 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413260

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