Innovation oder Ideologie?

Bilanzierungsversuche zur Germanistik der 70er Jahre

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichtsschreibung fällt im Allgemeinen anders aus, wenn sie von rückblickenden Zeitzeugen stammt oder von Nachgeborenen, die die Ereignisse anhand überlieferter Zeugnisse rekonstruieren und beurteilen. Freilich können auch die ersteren den Anschein erwecken, sie blickten kühl und unbeteiligt aus der historischen Distanz auf die selbsterlebte Epoche. Um diesen Gestus bemüht sich die Mehrzahl der Beiträger in dem Sammelband "Germanistik der 70er Jahre", der auf eine Tagung der Universität Hildesheim im Jahre 1998 nun folgt. So unterscheidet sich der Tonfall derer, die damals gerade wissenschaftlich Karriere machten, wenig von dem der jüngeren Kollegen. Vom Involviertsein der eigenen Biografie in den Untersuchungszeitraum berichtet nur Reinhard Baumgart und macht sich selbstironisch zum Fallbeispiel, an dem die Literaturkritik der Zeit erläutert wird. Dieses Potential bleibt sonst ungenutzt. Es dominiert ein sachlich-nüchterner Stil, mit dessen Hilfe das Vergangene abschließend bilanziert und zwischen "Innovation und Ideologie" positioniert werden soll.

Der Tagungsband versammelt in seinen zwölf Beiträgen dabei recht Unterschiedliches. Neben den Forschungsaktivitäten zu einzelnen Autoren oder ganzen Forschungszweigen wie der feministischen Literaturwissenschaft (Dagmar von Hoff) werden sowohl übergreifende fachgeschichtliche als auch institutionsgeschichtliche Fragen berücksichtigt. Solide recherchiert werden gleichermaßen Informationen über die literaturtheoretischen Debatten der 70-er Jahre um Bertolt Brecht (Detlev Schöttker) geliefert wie über die Förderungspraxis der DFG (Manfred Briegel), die Bestrebungen einer generellen Universitätsreform (Jürgen Mittelstraß) oder die "schul- und hochschulstrukturellen Eckdaten", die Zeugnis ablegen von der enormen Expansion des Faches in diesem Zeitraum (Bernd Zymek). Wie hilfreich vor allem letzteres ist, zeigt sich in den mitabgedruckten Diskussionen der Tagungsteilnehmer nach jedem Beitrag. Immer wieder ist es Zymek, der auf empirisch breiter Grundlage dem Abgleiten in ein bloß auf subjektiver Perspektive gegründetes Lamento über den qualitativen Verfall des einst so wichtigen Faches widersprechen kann. Vom Resonanzverlust der ehemals so "großmächtigen" Disziplin ist auch bei Rolf Grimminger die Rede, der sich dem fortgesetzten Krisenbewusstsein innerhalb des Faches widmet. Seine Bewertung der 70-er Jahre fällt dann tendenziell ebenso positiv aus wie bei Rainer Rosenberg, dessen Beitrag als einziger auch die germanistische Forschung in der DDR breiter berücksichtigt. Eine Modernisierungskrise des Faches führte demnach nicht nur zu einer Politisierung der Disziplin, so die These, sondern auch zu einer deutlichen Verwissenschaftlichung, die sich in einer bis heute anhaltenden Methodensensibilität niederschlägt. Versachlichung, Historisierung und Dekanonisierung sind die positiv benannten Tendenzen. Wie ein solcher wissenschaftsgeschichtlicher Wandel sich in einzelnen Forschungsfeldern vollzog, wird an Goethe (Dirk Kemper), Hölderlin (Bernhard Böschenstein) und Büchner (Walter Schmitz) demonstriert. Mehr als an einem Forschungsüberblick sind die Autoren daran interessiert, die im Einzelfall beschriebenen Veränderungen als symptomatisch und exemplarisch für die Zeit zu interpretieren. Dies reicht von der Politisierung der Goetheforschung über das Esoterisch-werden der Literatur zu Hölderlin bis hin zur "Umpolung" eines Autors wie Büchner, die sich beinahe wie eine Verschwörung liest. In diesen Beiträgen endet allerdings die positive Einschätzung des Untersuchungszeitraums, und es werden zahlreiche Vorwürfe artikuliert. Der alte Dogmatismus sei nur durch einen neuen ersetzt worden und die ideologiekritischen Ansätze seien schon durch den Wahrheitsanspruch des zugrunde gelegten Gesellschaftsmodells diskreditiert. Was einige der Tagungsteilnehmer noch als Verwissenschaftlichungstendenz loben konnten, wird hier zum "instrumentalisierten Szientismus" und zur "mythisierten Quellenphilologie" (Schmitz) erklärt.

Wer nach solchen pointierten Thesen glaubt, eine spannende Diskussion im Anschluß nachlesen zu können, sieht sich indes getäuscht. Um die Leistungen der kritisierten Ansätze und Fragestellungen deutlicher zu profilieren, hätte es vermutlich doch der Präsenz von deren (einstigen) Vertretern bedurft. Dann wäre vielleicht gefragt worden, ob eine ideologiekritische Herangehensweise etwa an Achim von Arnims antisemitische Rede "Über die Kennzeichen des Judentums" von 1811 tatsächlich so abwegig ist und welche Voraussetzungen sie hat - vor allem aber auch welche Aktualität ihr zukommen könnte. So aber erscheint Vieles allzu rasch erledigt.

Ziel der Analysen sei "ausdrücklich nicht eine Personalisierung im Hinblick auf einzelne Vertreter des Faches" gewesen, heißt es im Vorwort und es sind überraschenderweise die beiden Herausgeber, die sich am wenigsten an diese Vorgabe halten. Vor allem in Silvio Viettas Eröffnungsbeitrag spürt man etwas von dem Geist der betrachteten Zeitspanne, und es findet sich wenigstens noch ein matter Glanz des einst so verbreiteten "hochfahrenden Tons" (J. Jacobs). Statt allzu gelehrter wissenschaftshistorischer Erklärungen wird hier in einer Art und Weise polemisiert, die zumindest für die Nachgeborenen durchaus Unterhaltungswert besitzt. Totalitarismus, Ideologisierung, Didaktisierung, Verlust des Gegenstands, Scheinwissenschaftlichkeit, Reduktionismus, Verachtung der Philologie und Vernachlässigung des Ästhetischen lauten die Vorwürfe Viettas. Seine an Personen und Institutionen orientierte Kritik versteht sich als Gegengeschichtsschreibung etwa zu Jost Hermands Beurteilung der gleichen Phase in seiner "Geschichte der Germanistik" - der hätte, dies nur nebenbei, das Hildesheimer Podium spätestens in der Schlussdiskussion zur Aktualitätsfrage sicher belebt. Ihm wirft Vietta vor, er schreibe auch heute noch "im Studentenjargon der damaligen Zeit", und setzt ihm seinen eigenen entgegen. Damals also, als "fast wie eine Naturgewalt" durch die Wissenschaftslandschaft "ein gewaltsamer Bruch" ging und die "Kreuzzüge der linken Studentenbewegung gegen die Springer-Presse" sich ereigneten, als der "HistoMat" als "Offenbarung" und "Himmelsbrot" der Studenten "den Blick vernebelte", damals trat die Germanistik, so Vietta, "mit großen Bataillonen in den Dienst der Sozialutopie" und einzelne Fachvertreter standen gar im Dienst "des Endsieges des Proletariats über die Bourgeoisie". Aus dieser Zeit datieren die "Fehlversprechen" von "Chancengleichheit" und aufgehobenen "Hierarchien" an der Universität, unter denen wir angeblich heute noch "laborieren". Der Wunsch nach Erledigung der Vergangenheit kulminiert schließlich in Selbstzensurempfehlungen gegenüber Verlagen, deren Literaturgeschichten nicht den wissenschaftlichen Normen und bevorzugten Fragestellungen des Autors entsprechen und deshalb "aus dem Handel gezogen werden" sollten. Solche Normen unterliegen indes dem historischen Wandel und gehen aus den Diskussionen der Fachvertreter hervor. So bleibt in diesem Fall für die Literatur- wie für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu hoffen, dass der vorliegende Band nicht den abgeklärten Abschluss, sondern den Anfang einer lebhaften Kontroverse bildet.

Titelbild

Silvio Vietta / Dirk Kemper (Hg.): Germanistik der 70er Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
342 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770535383

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