Am Bildschirm schmökern

Literatur und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts auf CD-ROM

Von Thorsten UngerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Unger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bertolt Brecht beobachtete im Rückblick auf gut zehn Jahre Rundfunk eine Priorität der Mittel vor den Zwecken. Die Technik funktionierte schon, aber sinnvolle Anwendungen fehlten noch: "Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen" (Rede über die Funktion des Rundfunks). Angesichts zahlreicher wenig substantieller Homepages hätte Brecht das auch heute, im Rückblick auf zehn Jahre Internet, konstatieren können. Und auf dem expandierenden Markt der CD-ROMs finden sich etliche Exemplare, deren schmaler Inhalt in einem geradezu peinlichen Verhältnis zu den enormen Möglichkeiten dieses Speichermediums steht.

Das ist indessen keineswegs der Fall bei der von Mathias Bertram zusammengestellten Anthologie deutscher Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik. Und für Rainer Baasners und Georg Reichards Literaturgeschichte (laut. Reclam "die erste Literaturgeschichte auf CD-ROM") wird man es so hart nicht sagen wollen, wenn auch der Verlag die zwei Teile gut auf einer Scheibe hätte unterbringen können. Die zu besprechen-den Produkte sind sinnvolle und innovative EDV-Anwendungen für die Literaturwissenschaft.

Die Computeranthologie "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka" enthält ausgewählte Werke von 58 Autoren, die zitierfähigen Ausgaben entnommen sind und buchseitenweise auf dem Bildschirm erscheinen. Überträgt man Textstellen über die Windows-Zwischenablage in die eigene Textverarbeitung, wird automatisch in eckigen Klammern eine Quellenangabe angehängt, die sowohl Seitenangaben der Digitalen Bibliothek (durchgezählt von 1 bis 102461) als auch der jeweiligen gedruckten Ausgabe (unter Sigel) enthält. Auf diese Weise läßt sich sehr komfortabel direkt aus der CD-ROM zitieren. Die Auswahl der dazu zur Verfügung gestellten Texte läuft auf eine Bestätigung des hohen literarischen Kanons hinaus; sie sollte - wie es im Begleitheftchen heißt - "das Werk der bedeutsamsten und wirksamsten Autoren" elektronisch erschließen. Warum Bürger und nicht auch Hölty und Voß, läßt sich bei solchen Zusammenstellungen natürlich immer fragen, warum Lenz und nicht auch Klinger und Wagner; aber vor allem: warum nur vier Frauen (von Arnim, Droste, Ebner-Eschenbach und La Roche)? Was allerdings aufgenommen wurde, kann sich sehen lassen: Romane, Erzählungen, Dramen, Lyrik, Essays, Beispiele aller Genres und immer komplette Texte, zum Teil in mehreren Fassungen. Zu allen Autoren gibt es außerdem eine tabellarische Kurzbiographie sowie ein Porträt (Stich, Zeichnung oder Foto) und - soweit verfügbar - eine Unterschriftsprobe.

Für die Forschung ist die Anthologie vor allem durch die differenzierten Such- und Verwaltungsfunktionen ein wertvolles Hilfsmittel. Man kann nicht nur die ganze CD, ausgewählte Texte oder Textgruppen nach einzelnen Stichworten durchsuchen, sondern in komplexen Suchvorgängen auch mehrere Begriffe mit logischen Verknüpfungen ('und'/'oder') kombinieren. Wer über weitere Ausgaben der Digitalen Bibliothek (15 verschiedene Titel lagen im Frühjahr 1999 vor) oder über Internet-Anschluß verfügt, kann die Suche unter der gleichen Software auf diese Medien ausdehnen. In Themenlisten lassen sich Suchbegriffe zusätzlich in absteigender Präferenzfolge anordnen, die Suchergebnisse können in Fundstellenlisten gespeichert, gefundene oder von Hand farbig markierte Textstellen kommentiert werden. Damit eignet sich die Textsammlung gut als Basis für themenbezogene Untersuchungen zur Literatur.

Während die Computeranthologie in ihrer Gestaltung mit linearer Textanordnung eng am Medium Buch orientiert bleibt, beschreiten die zwei Teile der "Epochen der deutschen Literatur" einen medienspezifisch neuen Weg als "Hypertext-Informationssystem". Die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts wird hier nicht monographisch-linear abgehandelt, sondern in einer Vielzahl kurzer Text-/Bildeinheiten ("Topics"), die mit einem Umfang von etwa zwei bis vier Bildschirmlängen jeweils ein Thema referieren. Über vier Register lassen sich alle Topics zunächst direkt anwählen: Im Register "Überblick" (Topics z.B.: "Begriffsbestimmung Aufklärung", "Medien und Informationssysteme", "Reisen - Verkehrswege", "Bevölkerungsentwicklung") werden zur ersten Orientierung Informationen zu den (sozial-) historischen Rahmenbedingungen der Literaturentwicklung angeboten. Die Topics im Register "Institutionen und Konventionen" (z.B.: "Epoche: Aufklärung", "Drama", "Zensur", "Münzwesen") bieten detailliertere Informationen zu wichtigen Zusammenhängen des Literaturbetriebs vom System der Gattungen und Formen bis zu relevanten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Unter der Registerkarte "Autoren" finden sich 38 ("Aufklärung und Empfindsamkeit") beziehungsweise 31 ("Sturm und Drang / Klassik") anklickbare Autorennamen, zu denen zusammenfassende Informationen zu ihrer Bedeutung, tabellarische Lebensläufe, Schriftenverzeichnisse in chronologischer Folge der Erstausgaben und eine Fülle von Abbildungen bereitgehalten werden. Die Registerkarte "Textbeispiele" schließlich führt zu Textauszügen (bei Lyrik auch Ganztexten) mit Quellenangabe (häufig eine Reclam-Ausgabe, sonst in der Regel die Erstausgabe), die jeweils mit kurzen Informationen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte und zur literarhistorischen Bedeutung sowie mit einer knappen Inhaltsangabe eingeleitet werden.

Wesentlich für die Hypertextgestaltung sind aber die "Links". Sie verknüpfen jedes Topic mit anderen Topics und stellen es auf diese Weise in einen thematischen Kontext. Internetbenutzer wissen, wie das funktioniert: Innerhalb eines Topics sind verschiedene Begriffe oder Namen farblich hervorgehoben und dadurch gewissermaßen als Sprungbretter zu anderen Topics erkennbar, zu denen man per Mausklick gelangt. Beispielsweise lassen sich vom Topic "Nationaltheater - Hoftheater" im Register "Überblick" des Teils "Sturm und Drang / Klassik" unter anderem die Topics "Mediensystem", "Drama", "Nation", "Übersetzungen", "Mannheim", "Shakespeare", "literarisches Publikum" und "Wilhelm Meister" anklicken. Liest man im Topic "literarisches Publikum" weiter, stößt man unter anderem auf ein Link zum Topic "Frauenbildung", von wo aus dann Links etwa zum "Bildungsroman" und zu "Gymnasien" weiterführen. Auch dort werden wieder relevante Verknüpfungen angeboten und so fort. Auf diese Weise gestaltet sich jeder Zugriff auf diese Literaturgeschichte je nach Benutzerinteresse anders. Natürlich sind die Verknüpfungen vorgegeben und damit die Möglichkeiten begrenzt; welche Links aber angeklickt, in welcher Reihenfolge also Informationen abgerufen werden und welche Texte ein Benutzer konkret aktualisiert, bleibt der jeweiligen Lektüre überlassen. Eine Suchfunktion (verhältnismäßig langsam) mit Fundstellenindex ermöglicht daneben gezielte thematische Zugriffe.

Inhaltlich sind die Ausführungen unter den einzelnen Topics und die Strukturierung der Informationen hauptsächlich dem Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur verpflichtet. Neuere Forschungsinteressen (z.B. gender-Fragen) und -ergebnisse (z.B. zum Verhältnis Sturm und Drang - Aufklärung) wurden berücksichtigt. Die Autoren haben allerdings nicht den Anspruch, in wissenschaftlicher Hinsicht Neues zu bringen. Zielgruppe der CDs sind "Computer-Nutzer, die sich für Literatur- oder Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts interessieren", darunter vor allem Studierende des Grundstudiums und fortgeschrittene Schüler. Sie sollen hier "Information mit geringem Umfang und niedrigem Spezialisierungsgrad" finden. Dagegen wäre insoweit nichts einzuwenden, wenn für diejenigen, die gleichwohl zu einem höheren Spezialisierungsgrad vordringen wollen, Hilfen bereitgehalten würden. Die Autoren verzichten aber vollständig darauf - und das halte ich für den größten und ganz unnötigen Nachteil dieser CD-ROMs - Hinweise auf weiterführende Forschungsliteratur zu geben. Es hätte sehr nahe gelegen, zum Beispiel am Ende eines jeden Topics auf drei oder vier einschlägige Titel hinzuweisen.

Gelungen ist die Integration der zahlreichen instruktiven Abbildungen, die zur Illustration der Topics zusammengetragen wurden. Per Mausklick gelangt man in ein spezielles Bildfenster mit einer Gesamtansicht und einer meist recht knappen Legende. Von hier aus läßt sich das Bild zum Beispiel in ein Textverarbeitungsprogramm übertragen. Es kann aber auch als Vollbild angezeigt und dabei zur Betrachtung von Details bequem mit der Maus hin und her geschoben werden. In einigen (leider wenigen) Fällen gibt es zusätzlich eine "Rollover Funktion": Wenn man mit dem Mauszeiger auf einzelne Bilddetails zeigt, wird dazu ein Spezialkommentar eingeblendet. Man probiere dies einmal an der Abbildung eines 'Buchladens eines gelehrten und mächtigen Verlegers' im Topic "Verlagswesen" der CD "Aufklärung und Empfindsamkeit". - Leider fehlen zu vielen Bildern Quellenangaben.

In einem Werkstattbericht zur Erstellung der CD-Rom schrieb Rainer Baasner: "Was nicht als computergestützter Datensatz verbreitet wird, droht aus dem kollektiven Wissen herauszufallen." Vorläufig melden die Buchmessen noch von Jahr zu Jahr Rekorde bei den Neuerscheinungen, aber zumindest was wissenschaftliche Hilfsmittel betrifft, ist die Tendenz richtig benannt: Schon die jetzige Studierendengeneration benutzt etwa für bibliographische Recherchen häufiger elektronische Datenbanken als gedruckte Bibliographien. Vielleicht finden auch Literaturgeschichten auf CD-ROM (in dieser oder in einer verbesserten Version) bald mehr Leserinnen und Leser als ihre Vorbilder in den Bücherregalen. Wer vor Bildschirm und Maus nicht zurückschreckt, den dürfte jedenfalls das Hypertext-Informationssystem zum Schmökern reizen - Pardon: zum "Surfen".

Titelbild

Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Für Windows 3.11/95/NT. Werke v. 58 Autoren.
Directmedia Publishing, Berlin 1997.
1 CD-ROM, 50,60 EUR.
ISBN-10: 3932544102

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rainer Baasner / Georg Reichard: Epochen der deutschen Literatur - Aufklärung u. Empfindsamkeit. Ein Hypertext-Informationssystem.
Reclam Verlag, Leipzig 1998.
25,50 EUR.
ISBN-10: 3151002021

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rainer Baasner / Georg Reichard: Epochen der deutschen Literatur: Sturm und Drang / Klassik. Ein Hypertext-Informationssystem.
Reclam Verlag, Stuttgart 1999.
25,50 EUR.
ISBN-10: 315100203X

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