Menschenleer

Ullrich Schwarz gibt einen Band zu 25 Beispielen deutscher Architektur der Gegenwart heraus

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In "Neue Deutsche Architektur" kann man einen imaginären Lebensweg konstruieren. Für jedes Alter und für jeden Bereich findet sich das passende Gebäude, von der Grundschule über das Altenwohnheim bis zum Krematorium, von der Wiege bis zur Bahre. Wenn man seine Existenz ausschließlich in den Bauten die dieses Buches vorstellt zubringt, dann kann man mit Gewissheit folgende letzte Worte röcheln: "Ich war modern."

Um dies behaupten zu können, muss man sich jedoch an die verwirklichten Visionen der Architekten anpassen, denn die Formen dieser Visionen sind unangepasst. Alle ausgewählten Gebäude stehen als perfekt durchgeplante Monumente in einer beindruckenden Ästhetik voller Strenge und auffallender Bescheidenheit einzig für sich. Hinter jeder Fassade entdeckt man dasselbe Konzept zum Effekt: Die bewusste Abgrenzung von der (natürlichen oder künstlichen) Umgebung mit einer gleichzeitigen scheinbaren Drosselung von Auffälligkeiten an den Aussenwänden, wodurch gerade dann der Eindruck von minimalistischer Erhabenheit beim Betrachter hervorgerufen wird.

Das Fehlen jeglicher Bauskulptur macht den Bau zur Skulptur. Die Großflächigkeit der Aufrisse unterstreicht eine abwehrende Eleganz, die auch bei vollständiger Transparenz einzelner Gebäudeteile den zurückweisenden Charakter beibehält. Man soll - so könnte man meinen - den Bau zuerst zweifellos als eigenständiges Kunstwerk identifizieren, bevor man vorübergeht oder eintritt. Diese Vermutung lässt sich auch dadurch aufrecht erhalten, dass man keiner der Bauten auf den ersten Blick ihren Zweck ansehen kann, dass jeder Bau auch einem anderen Zweck dienen könnte.

Durch diese Vereinheitlichung und äusserliche Sinnentleerung entsteht ein merkwürdig homogenes Bild der "Neuen Deutschen Architektur". Die planenden Büros scheinen sich untereinander abgesprochen zu haben, um ihren Teil zur Inszenierung der modernen Lebenswelt beizutragen. Jedes Gebäude wäre eine stimmige Kulisse zu einem Werbespot für silberne Wagen der gehobenen Mittelklasse, besetzt mit einer dazu farblich abgestimmten, besserverdienenden Modellfamilie.

Alle ausgewählten Gebäude reihen sich nahtlos in die aktuellen Tendenzen der Künste ein: Sie streben nach makelloser Glattheit und durchdringender Stilisierung bis ins Detail bei sehr reduziertem Einsatz der Mittel am fertigen Produkt. Die kreative Persönlichkeit tritt im Arbeitsprozess zurück. Die Handschrift des Künstlers wird im binären Code der neuesten Musik-, Animations- und Bildbearbeitungsprogramme gereinigt. Das Ergebnis ist wie ein Apple Computer: höchste technische Perfektion die noch dazu extrem geil aussieht. So wirken dann auch die umbauten Volumen wie aseptische Reinräume, in denen man Prozessoren und Speicherchips herstellen kann, und die zu beobachtende Renaissance der Neonröhre unterstreicht diesen Eindruck.

So werden Architekturen erzeugt, die, aus einer unmenschlichen Linie und künstlichen Baustoffen oder maschinell bearbeiteten klassischen Materialien, ein Konglomerat anorganischer Kühle darstellen, einen Komplex der kalkulierten Ungemütlichkeit. Das macht sie nicht unwohnlich, das verlangt nur die bereits angesprochene Anpassung, den Willen sich dieser Nüchternheit zu stellen.

Diese Ästhetik schreit aber nach einer Trennung zwischen privaten und öffentlichen Bauten.

Die Münchner Herz Jesu Kirche von Allmann Sattler Wappner besticht zwar durch überirdische Eleganz, doch die Rentnerin aus Neuhausen "passt" genausowenig dazu wie der Jugendgottesdienst mit Klampfe. Die Grund- und Gesamtschule in Berlin-Hohenschönhausen von Max Dudler ist schön, schlicht und ergreifend, doch der siebenjährige Rotzlöffel "passt" da ebensowenig hin wie das genervte Lehrerkollegium. Der "normale" Mensch hadert mit den vorgestellten Architekturen.

Exakt das drücken auch die Fotografien aus. Sie sind menschenleer. Für den Band wählte man die Strategie der möglichst entmenschlichten Architekturfotografie, um auch so einzig das Gebäude in den Mittelpunkt zu rücken, nicht seine Nutzung und die das Gebäude nutzenden Personen. Die Straßen sind nahezu autofrei, das Bürohaus verwaist, in der Bücherei stehen keine Bücher, sogar am Potsdamer Platz ist nichts los. Der Mensch taucht nur als abstrakte Strichfigur in Zeichnungen auf, in wohl proportionierten Grüppchen, farblos, in der computercolorierten Graphik.

Wie sehr sich die Planung von der Wirklichkeit unterscheidet, wie weit die "Visionäre" sich von ihrer Umwelt verabschiedet haben, zeigen die Kommentare zu Schulen oder Kindertagesstätten besonders gut. "Die Grundidee der Schule für rund vierhundert Kinder besteht in der Rekonstruktion einer Stadtmauer. Sie soll an diesem Ort, wo die Peripherie ausfranst, die Stadt und ihre Grenze verfestigen. Steinerne Schwere und Geschlossenheit unterstreichen denn auch die Absicht, ein fest umrissenes Stadtbild herzustellen." Diese "Grundidee", die durchaus nicht schlecht sein mag, zwingt den Grundschüler nun aber unter ein massives Joch aus grauen Steinquadern. "Vom Eingangsraum führen zwei Treppen der Fassade entlang in die oberen Geschosse, was zusammen mit den dazwischen liegenden Nebenräumen einen kompakten und dichten Bautyp ergibt. Umso mehr erscheinen die Terrassen und Freiflächen als großzügiges Angebot mit Aktionsfeldern für Kinder." Das Kind auf dem "Aktionsfeld" vor der Tagesstätte, die ausschließlich aus rechten Winkeln besteht.

Um nicht missverstanden zu werden: Das soll keine Verteidigungsschrift für Hundertwasser-Bonbonburgen, biomorphe Amöbenpuddings oder Wolkenkuckucksheime sein. Die 25 Beispiele der "Neuen Deutschen Architektur" sind hervorragende und elegante Bauten. Nur leider hat man das Gefühl, dass bei ihnen ausschließlich im Sinne der als für zeitgemäß verstandene Ästhetik geplant wurde. Was nach der Fertigstellung mit den Bauten geschieht, scheint nicht mehr im Interesse der Architekturbüros zu sein. Das Gebäude als singuläres Kunstwerk, als Motiv für einen Bildband, als Gitternetzmodell in einem Bildband, und dieser passt so wenig in ein Bücherregal im Reihenhaus wie der Bewohner des Reihenhauses in das Gebäude als Kunstwerk.

Das Haus, das irgendwann einmal entstand um den Menschen vor Umwelteinflüssen zu schützen, wird der Welt enthoben und zu einem reinen Gedankengebäude. Dieses Gebäude ist jetzt vor Umwelteinflüssen zu schützen, unter anderem vor dem Menschen, und so heißt es dann auch folgerichtig zum von Werner Sobek erdachten Haus R 128: "Die Hypertransparenz erweckt den Eindruck, dass man in diesem Haus eher draußen als drinnen wohnt."

Man baut ein wenig am Menschen vorbei, der Mensch ist für diese Häuser einfach noch nicht cool genug. Der Band "Neue Deutsche Architektur" begleitet die gleichnamige Ausstellung, die noch bis zum 16. September im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist und dann für fünf Jahre international auf Tour gehen wird. 170 der 360 Seiten befassen sich mit den 25 ausgewählten Beispielen, der Rest besteht aus Texten zur Architekturtheorie und -geschichte der letzten 40 Jahre in Deutschland.

Titelbild

Neue deutsche Architektur. Eine reflexive Moderne. Texte von Gert Kähler, Wolfgang Kil, Wolfgang Pehnt, Hanno Rauterberg, Olaf Winkler und anderen.
Herausgegeben von Ullrich Schwarz.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2002.
360 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3775711937

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