Unterwegs in Padjelanta

Sigrid und Hamster Damms Tage-und Nächtebücher aus Lappland

Von Silke WellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Weller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann und eine Frau, er bildender Künstler, sie Schriftstellerin, ziehen aus nach Padjelanta, Nordschweden, dem Land der Samen, dem letzten Urvolk Europas. Etwa dreißig Jahre liegen zwischen ihnen. Sie sind Mutter und Sohn, Angehörige verschiedener Generationen. Für ihre Wanderung wählen sie denselben Weg und dieselbe Jahreszeit, aber nicht das selbe Jahr. Sie gehen je sieben herbstliche Tage und schlafen je sieben schon eisige Nächte. Dieser Rhythmus und die gleichen - zeitversetzt - durchwanderten Orte schaffen den äußeren Rahmen des gemeinsamen Reisetagebuchs, in dem der Leser alternierend die Stimme der Frau und die des Mannes vernimmt.

Doch der Text, das neueste Werk von Sigrid Damm, ist nur der eine Teil der "Tage- und Nächtebücher aus Lappland". Kongenial ist ihm ein zweiter beigesellt, der das vorliegende Buch zu einem außergewöhnlichen Kunstwerk macht. Mit Grafiken, Collagen und Objektfotografien visualisiert der Sohn Sigrid Damms, Hamster, unterstützt von seinem Bruder Tobias, seine künstlerische Sichtweise auf Lappland. Manchmal decken sich diese Bilder mit den inneren und äußeren Erlebnissen der Wandernden, die von der Schriftstellerin festgehalten werden: wie die Gedanken an Kriege auf dem Balkan und in der Golfregion die sinnlich konkreten Eindrücke der Schreitenden verdrängen, okkupieren Symbole des Krieges und der Zerstörung die Landschaftsaufnahmen.

Doch die Bilder sind mehr als nur eine Illustration des Textes. Sie eröffnen Dimensionen, die die Worte nicht zu erschließen vermögen. Hamster Damm betritt das hohe Land, wie es die Samen nennen, mit seinen Birkenwäldern, Gletschern und Moosflächen wie eine Bühne, ein Kunstwerk. Da läuft ein Holzsteg durchs dünne Steppengras wie die Farbspur über ein monochromes Feld, das Moos auf dem Stein wird zur abstrakten Form, die Ansammlung von Pilzen zur künstlerischen Akkumulation. "Die Landschaft ein Fotoausschnitt." Ein ständiges Oszillieren zwischen Kunst und Natur. Eine Pendelbewegung zwischen dem schnellen, sich einfräsenden Techno-Beat der Großstadt, aus der der Fotograf kommt, und der meditativen, raumgebenden Stille der Landschaft, in der er sich nun befindet. Nur langsam löst sich der "Dreck im Kopf", tritt die Flut der medialen Daten zurück, wird das Gehen schließlich zur Inspiration. Manchmal entdeckt erst der zweite Blick auf die Bilder das künstlerische Element: wenn der naturalistische Steinweg plötzlich Gesichter offenbart, die Gesteinsformation am Bachrand weibliche Konturen zeigt.

Während sich der Medienkünstler ganz in diesem Sinn von Anfang an auf eine "Arbeitswanderung" begibt, lässt die Schriftstellerin ihren Schreiballtag bewusst hinter sich. Ihr innerer Blick geht nicht nach vorn, sondern kehrt zurück in die eigene Kindheit und all dem, was bis zu dieser Wanderung folgte. Die Topographie der Landschaft wird ihr zur Topographie des eigenen Lebens, und der Leser erfährt erstaunt und erschreckt, dass die Frau, die sich am Ende des Romans "Ich bin nicht Ottilie" von zwei Männern trennt und zu sich findet - "inneres Gleichgewicht, Freisein, Konzentration auf die Arbeit" -, abermals in männliche Abhängigkeit geriet; eine Abhängigkeit, die nun, nach der erneuten Loslösung in Text und Videostandbild durch das starke Motiv einer den Boden schrubbenden Frau versinnbildlicht wird, deren Arbeit in den Augen des geliebten Matadors immer unzureichend und schmutzig bleibt.

Die Identifikation von Sara, so der Name der Protagonistin des Romans, der Wanderin durch Lappland und der Autorin Sigrid Damm sollte freilich nicht zu weit getrieben werden. Die Frage, was autobiographisch sei, ist nicht wichtig. Erhielte man dadurch doch nur, wie Damm selbst schreibt, "Erklärungen, die die Sprache zum Schutzschild verkommen lassen, die banalisieren, Logik vortäuschen, Geheimnisse zerstören." Der Text soll genügen, erlaubt er doch auch ohne das Wissen, dass hier gewissenhaft Protokoll über das eigene Leben geführt wird, überzeugende Einblicke in den schwierigen Selbstfindungsprozess einer Frau. Einer Frau, die nicht nur Frau, sondern auch Mutter und Künstlerin ist und die die "Flut der Umarmungen, liebenden, erstickenden, von Familie, Männern" ebenso kennt wie die Einsamkeit, zu der sie eine ganze Phänomenologie zu entwerfen vermag, von der schöpferischen Arbeitseinsamkeit über die Einsamkeit des Festes, des Leides bis hin zur Einsamkeit des Geschlechts.

In Text und Bild wird noch eine weitere Komponente eingefangen: auf ungezwungene Weise, in erzählerischer Manier liest man von der Tradition der Samen, ihren Ritualen, Legenden und ihrem umfangreichen Rentier- und Schneevokabular. Man sieht die typischen Hütten, den heiligen Berg Akka und ihren Wintermarkt in Jokkmokk, der dominiert wird "vom Geräusch der Schuhe auf dem Schnee. Kälte, 30 bis 40 Grad minus können es sein. Je nach dem Kältegrad des Schnees und dem Gewicht des Körpers, dumpf oder hell, ein Klingen, Ächzen, Knarren der Schritte."

Gemäß den unterschiedlichen Ausgangspunkten ihrer Wanderung, zu der er sich aufmacht, um zu arbeiten, sie losgeht, um auszuruhen, erreichen Mutter und Sohn auch ihr Ziel in höchst unterschiedlicher Verfassung. Wollte man das Leben nicht als Kreislauf sehen, könnte man sagen, sie gelangen zu den entgegengesetzten Enden der Lebensskala. Denn während in ihrer Vorstellung der Tod eine immer dominantere Rolle spielt, erfährt der Leser, dass es eben der Ort ist, an dem die Wanderung für den Künstler zu Ende geht, an dem er Jahre später mit seiner Frau einen Sohn zeugen wird.

Leben und Tod - ein künstlerisch rundes Ende und doch vielleicht etwas zu gewollt, überzeugt es doch weniger als das etwas vorher gezogene Resümee der Frau: noch fern vom Tod, gleichsam aus der Mitte des Lebens schreibt sie da: "Die Arbeit und die Kinder. Das macht mich aus." Wobei das "Und" zu einem "Mit" wird, einem gemeinsamen Unterfangen in doppelter Bedeutung: das gemeinsame künstlerische Vorhaben und das gemeinsame Lebensprojekt. Ein Experiment beides. Für den ersten Fall - und hier sei die Identifikation von Wanderin und Sigrid Damm erneut erlaubt - kann und darf der Leser urteilen: ein äußerst gelungenes!

Titelbild

Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
224 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3458170960

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