Derrida intim

George Bennington und Jacques Derrida porträtieren Jacques Derrida

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Weg zu Jacques Derrida ist lang und jedes Versprechen, einen strukturierten Einstieg in sein komplexes Denken zu ermöglichen, wird sicher mit offenen Armen empfangen werden. Auch von dem bereits vor einiger Zeit im Suhrkamp Verlag erschienenen Band "Jacques Derrida" geht das Versprechen aus, Derridas zentrale Bemühungen anschaulich und klar zu rekonstruieren. Anschaulichkeit deuten bereits eine Reihe von Fotografien und der aufwändige bio- und bibliografische Apparat an. Und das Versprechen eines direkten Zugangs zum Denken Derridas strahlt der Band nicht zuletzt deswegen aus, weil er von Jacques Derrida als Co-Autor mitverfasst und somit autorisiert worden ist. Die selbst gesetzten Ansprüche des Buchprojekts sind entsprechend: es gehe bei dem Versuch, das Denken Jacques Derridas zu pointieren, um "größtmögliche Klarheit" - das macht neugierig.

Schon auf den ersten Blick tritt die gewitzte Anlage der Schrift hervor. Bereits anhand seiner formalen Eckdaten verdeutlicht das Buch Aspekte der dekonstruktivistischen Texttheorie. Text und Kontext, Text und Subtext, aber auch Text und Bilder laufen parallel und mitunter ineinander, so dass die Grenzlinien der einzelnen Texteinheiten, der Versatzstücke des Buches, in Spannung geraten. Texte über Texte, deren Begrenzungen man im Geiste der Dekonstruktion als arbiträr empfinden darf.

Jede Textseite ist zweigeteilt. Die oberen zwei Drittel gehören dem Text Geoffrey Benningtons, der von Stichwort zu Stichwort die Lektüren Derridas einer Lektüre unterzieht. Im unteren Drittel läuft, parallel und quer zum oberen Text, der Text des eigentlichen Autors, Derrida, (wo ist also oben, wo unten?) - eine sperrige Sammlung von Erlebnissen, Lektüren und Reflexionen. So entsteht ein Textgeflecht, das selbst einen "Randgang" darstellt. Es ist einer linearen Lektüre nicht zugänglich, zwingt zum sprunghaften Lesen. Wahrheiten über die Dekonstruktion, festgeschriebene Charakteristika, die man getrost nach Hause tragen kann, werden dabei durchaus auch unterlaufen. Statt didaktisch und diskursiv, führt das Buch den dekonstruktivistischen Gestus performativ vor. Das Buch hält auf diese Weise eine Spannung, die das ganze Denken Derridas kennzeichnet: es oszilliert zwischen schillernden Bemerkungen, Randbemerkungen und ästhetischen Pointen einerseits und stringenter philosophischer Gedankenführung andererseits. "Lesen lernen mit Derrida" hätte diese Fibel heißen können, in der die zentralen Fragen nach dem Wesen von Schrift, Text und Buch, an der Grenze von Datensammlung, Fotografie, Kontext und Subtext demonstrativ eröffnet werden.

Die biografischen und bibliografischen Verzeichnisse sind hilfreich und umfassend. Derrida entsteht in ihnen noch einmal als die philosophisch-literarische Kapazität, die er nun einmal ist, und auch die Entwicklung seiner Rezeption ist darin einsehbar dokumentiert. Im Zusammenhang mit den Fotografien macht der biographische Teil deutlich, welchem geistigen Kontext und welchen historischen Erfahrungen das Denken Derridas geschuldet ist. Die Kindheit in der algerischen Diaspora, die Bedrohung durch den nationalsozialistischen Völkermord, der Mai 68, der Aufstieg in die französische intellektuelle Elite, unzählige Begegnungen mit namhaften Schriftstellern, Philosophen, Filmemachern und Soziologen - nur wenige Philosophien dürfen heute behaupten, eine solche Vielfalt zeitgeschichtlicher Ereignisse in sich zu vereinigen.

Und all das lässt neben dem Dekonstruktiven der Dekonstruktion auch den intimen, sehnsüchtigen, und religiösen Derrida hervortreten, wie er im theoretischen Konzept des Namens sowie der impliziten negativen Theologie des Undarstellbaren nur ganz unscheinbar aufblitzt. Die biografischen Daten und zahlreichen Abbildungen - sie geben buchstäblich ein Bild der Dekonstruktion, vermitteln etwas vom Ambiente dieses Denkens und bringen es zum Leben.

Wozu aber eignen sich die tatsächlichen Texte? Hyperdifferenzierungen, Randgänge und flottierende Grenzen in allen Ehren - ein guter Text ist wohl dennoch etwas mehr als seine formale Inszenierung. Mindestens deswegen, weil er seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Geoffrey Benningtons Anspruch ist Klarheit. Sein Porträt, das an Zentralbegriffen der Derridaschen Gedankenführung entlang arbeitet, die in sporadischer Folge ineinander greifen, ist belesen und umfassend. Pointiert, kritisch, analytisch und von philosophischer Strenge ist es jedoch nicht. Bennington bleibt im dekonstruktivistischen Jargon befangen und ist selbst zu sehr um die Nähe zu Derrida bemüht, als dass er sich ihm aus analytischer Distanz widmen könnte. An dieser Befangenheit ändert auch nicht, dass mit Derrida-Zitaten erfreulich zurückhaltend umgegangen wird.

Einige Differenzierungen im Begriffsapparat, einige Rekonstruktionen von Schlüsselkonzepten werden durch Benningtons Text zwar deutlich. Es ist jedoch fraglich, ob auch die Erläuterungen zur Dekonstruktion immer schon ihre literarische Aura atmen müssen, ob jener denn wirklich durch eine strukturierte Rekonstruktion, die Gewichtungen vornimmt und zentrale Motive akzentuiert, immer schon Unrecht geschehe. Die Wiederholung von Glaubenssätzen "dass es nichts außerhalb des Textes" gebe, oder die starke Rede von der "Enthauptung der Metasprache", sind über den Verdacht der diskursiven Verkrustung wohl kaum erhabener, als es die strukturierte Aufbereitung gedanklicher Zusammenhänge wäre.

Jacques Derridas eigener Text ist eine eigenartige Mischform unterschiedlichster Textgenres. Irgendwo zwischen écriture automatique und Traumtext, einer Augustinus-Lektüre und autobiographischen Reflexionen liest er sich zugleich zäh und doch beiläufig. Manchmal scheint es, als würden Codes der eigenen Theorie in ihm eröffnet, wenn etwa von der Mutter, die den Namen "Jacques" nicht mehr ausspricht, oder von ihrer Poker-Leidenschaft die Rede ist. Die Mutter erscheint als Matrix der Schrift überhaupt, in der die Sehnsucht des Namens verborgen liegt und die Schrift schimmert, in indirektem Verweis auf die Gabe als ein Einsatz in einem Pokerspiel auf. Eine subtile Metaphorik zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit wird aufgespannt, die in der Schwebe bleibt. In seiner nicht-diskursiven Gestalt eröffnet der Subtext Derridas Sinnhorizonte, die er zugleich verschiebt; er öffnet Türen zur Dekonstruktion, die er zugleich verschließt. Er selbst stellt die Geste der Dekonstruktion aus, ohne sie doch eigentlich zu vollführen. Insofern versteht sich der Text Derridas wohl tatsächlich als ein Subtext zur theoretischen Rekonstruktion, an der sich Geoffrey Bennington versucht. Derrida subvertiert Festschreibungen, die im oberen Teil kaum gegeben werden. Er füllt den Raum der Dekonstruktion mit flottierenden Bildern und Lektüren, der oben kaum eröffnet wird.

Die Idee des "Sub-Textes" weist auch eine Affinität zum Unbewussten aus. Halbbewusste Erfahrungen der kulturellen Initiation durch den Beschneidungsritus - der Vorhautring, das Blut - werden in größter Plastizität durchgespielt, durch Bilder sexueller Leidenschaften und ödipaler Verstrickungen ergänzt. Beschneidung und "Abbeißen" der Vorhaut spiegeln sich im Bild der Fellatio durch die eigene Mutter, "meine erste geliebte Kannibalin", wie es heißt. Auf diese Weise, gerade durch die Beiläufigkeit der Bemerkungen, in die solche Akzente eingelassen sind, wird der Text zu einer Provokation, er stellt selbst einen Randgang dar, steht an der Grenze dessen, was man ertragen möchte.

In mehrfacher Hinsicht wird das Buch somit zu einem Medium ungeahnter Intimität. Aufschlussreich intim die Bilder und biografischen Daten, die am Ende und am Rande eingestreut werden. Intim, allzu intim der Umgang Geoffrey Benningtons mit dem Denken Jacques Derridas. Intim, verstörend intim auch die autobiografischen Reflexionen, wie die provokanten Inszenierungen des Mutter-Sohn-Verhältnisses, in Jacques Derridas Subtext. In gewisser Weise stellt beides eine Herausforderung für den Leser dar. Durch sie wird jedoch immerhin eines deutlich: Wer mit Derrida lesen lernen will, wer bei ihm in die Schule geht, muss an die Grenze gehen.

Titelbild

Geoffrey Bennington / Jacques Derrida (Hg.): Jacques Derrida. Ein Portrait.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Lorenzer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
415 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518291505

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