Mädchen, die mit sechszehn das zweite Kind erwarten
Vorlesungen zur Frauen- und Geschlechterforschung in Bremen und Oldenburg
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEinem weitverbreiteten akademischen Usus gemäß werden die anspruchsvollsten Lehrveranstaltungen oft in die frühen Abendstunden verlegt. So scheint das besondere Interesse der Studierenden, die zu dieser Zeit noch den Weg in die Hörsäle finden, garantiert, und somit darf ein Seminar erwartet werden, dessen Teilnehmerzahl fruchtbare Diskussionen erlaubt. Gleiches gilt für Gastvorträge und Ringvorlesungen. Mit diesem universitären Brauch haben die "Mittagsvorlesungen" des "Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung" der Oldenburger Universität und des "Zentrums für feministische Studien" der Universität Bremen gebrochen. Die in diesem Rahmen in den Jahren 2000 und 2001 an beiden Universitäten gehaltenen Vorträge zum Thema "Körper und Geschlecht" liegen nun in einem Sammelband vor. Jutta Jacob und Barbara Thiessen unterstreichen in ihrer Einleitung den interdisziplinären Ansatz beider Zentren, die insbesondere die disziplinären Trennungen zwischen den Natur- und Technikwissenschaften einerseits und den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften andererseits überwinden wollen. "Körper-Haben" und "Körper-Sein" gelte zwar als "anthropologisches Schicksal" und werde "gleichsam als Naturkonstante" aufgefasst, so die beiden Wissenschaftlerinnen, doch könne keine wie auch immer geartete Rede vom oder über den Körper "Körper'Natur'" an sich bezeichnen, denn das Reden finde immer schon in der "Symbolsprache der Kultur" statt. Das klingt nun beinahe so, als handele es sich hierbei um eine Unzulänglichkeit der Sprache, die - da notwendig Kultursprache - keinen unmittelbaren Zugriff auf den Körper gestattet. Das trifft natürlich zu, aber im gleichen Maße, wie Sprache stets und unhintergehbar Kultursprache ist, ist der Körper immer schon Kulturkörper. Eine Einsicht, die auch Jacob und Thiessen zum Ausdruck bringen, wenn sie den Körper als "unübersehbar kulturell codiert" und als "historisch spezifiziert" bezeichnen.
Zwar ist das Spektrum der in dem Band thematisierten Aspekte von Körper und Geschlechtskörper weitgefächert - so befasst sich etwa Ines Weller mit Gender als "Eye-Opener" für Abstraktionen und Entkontextualisierung, Luise Berthe-Corti widmet sich dem biotechnologischen Körper und Christina von Braun fragt, ob es eine 'jüdische' und eine 'christliche' Sexualität gibt - doch hat sich mit dem kindlichen beziehungsweise dem jungendlichen Körper ein unausgesprochener Themenschwerpunkt herausgebildet, dem sich nicht weniger als die Hälfte der insgesamt zehn Beiträge auf die eine oder andere Weise nähern. Hannelore Schwedes etwa untersucht, wie Familienphotos Geschlechtsidentitäten nicht nur darstellen sondern formen und welche "gestaltende Wirkung" sie so auf "unser Verhalten, unsere Wahrnehmung und unsere Weltsicht" ausüben. Sie seien, so die an der Universität Bremen lehrende Physikerin, ein "beredter Ausdruck" des doing gender.
Petra Milhoffer fragt hingegen nach der kindlichen Sexualität und betont, dass Mädchen und Jungen auch in frühen Jahren bereits "Sexualwesen" seien, die nicht nur für ihr Verhalten gelobt werden wollen, sondern darüber hinaus auch "sexuell anerkannt" und "begehrt" sein möchten. Dies und insbesondere die "sexuellen Anteile der Körperlichkeit von Mädchen (und Jungen)" zu untersuchen habe die Sozialisationsforschung - auch die feministische - bislang versäumt. So sei der Forschung auch entgangen, dass und wie sich diese auf die "Bereitschaft" von Mädchen und Jungen zur "Übernahme von stereotypen sexueller Attraktivität" auswirken. Die Bremer Erziehungswissenschaftlerin schließt ihren Beitrag mit einem Plädoyer für eine Sexualerziehung, die das "Wissensbedürfnis" der Mädchen und Jungen "befriedigen", "Unsicherheiten abbauen" sowie das Zusammensein während der Pubertät "entspannen" will, und sich daher positiv auf die "sexuelle Selbstsicherheit" und ihre "Rollenflexibilität" auswirken könne.
Mit Milhoffers Ausführungen korrespondiert - zumindest thematisch - der Beitrag von Heike Fleßner, die sich mit den Mädchenbildern von Pädagoginnen befasst. Zunächst wirft sie jedoch einen kritischen Blick auf das durch die Medien vermittelte Bild des modernen starken Mädchens, durch das die realen Mädchen einem Druck ausgesetzt würden, dem sie oft nicht standhalten könnten: "Der Wunsch, ihnen zu entsprechen ist das eine, der Zweifel, ihnen genügen zu können, das andere und die Erfahrung, sie nicht zu erreichen, das dritte." Unter Pädagoginnen, so moniert die Oldenburger Erziehungswissenschaftlerinnen, gebe es nun eine "vorherrschende Tendenz" an diesem "Oberflächenbild vom starken Mädchen" bewusst oder unbewusst mitzuarbeiten. Nun ist sicher richtig, dass das in den Medien propagierte Bild des starken, alles erreichenden Mädchen ebenso falsch ist wie "das inzwischen hinlänglich kritisierte Bild vom Mädchen als Opfer", da es die "Vielschichtigkeit", "Zwiespältigkeit", "Widersprüchlichkeit" und "Gleichzeitigkeit" der unterschiedlichen Erfahrungen und Empfindungen von Mädchen verdeckt, die - wie Menschen überhaupt - beides sind: "stark und verletzlich, aktiv und hilflos, mutig und zurückhaltend, widerständig und eingeschränkt, aggressiv und vorsichtig" - oft das eine und nicht weniger oft das andere, manchmal aber auch beides zugleich. Ebenso berechtigt wie dieser Hinweis ist Fleßners Forderung an Pädagoginnen, sich dessen bewusst zu sein und nicht immerwährende Stärke ohne Schwäche zu propagieren. Weit wenig überzeugend ist jedoch ihre mit Verve vorgetragene Kritik an einer Pädagogin, die in einem Interview ihren Ärger über junge Frauen bekundete, "die mit sechszehn das zweite Kind erwarten". Sie weigere sich anzuerkennen, so Fleßner, dass eine Schwangerschaft für solche Mädchen durch "Sehnsüchte, Lust, sexuelle Wünsche und Hoffnungen auf Liebe" motiviert und durchaus eine "verlockende Perspektive" sein könne. Hieraus leitet die Autorin die Forderung ab, "alle Ressourcen zu mobilisieren, um jungen Schwangeren bzw. in der Folge den Müttern und ihren Kindern reiche Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen". Dass es im Gegenteil gerade zu den Aufgaben der mit den minderjährigen Mädchen betrauten SozialpädagogInnen gehört, möglichst vorab darüber aufzuklären, dass es sich bei der Hoffnung, eine Schwangerschaft könne ihre Probleme lösen und ihrem Leben eine glückliche Wendung geben, angesichts der allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso wie auf Grund der konkreten, oft miserablen Lebenssituation gerade dieser Mädchen in aller Regel nur um eine Illusion handeln kann, zieht Fleßner hingegen nicht in Betracht. Stattdessen bezichtigt sie die Pädagogin, Schwangerschaft als "Strafe für Sexualität" zu sehen. Besonders ärgerlich ist dabei Fleßners Neigung, hinter der "Ausblendung" des mit der Schwangerschaft verbundenen "Lustaspekts" auf Seiten der Pädagogin "unbewusst" deren "Abwehr im eignen Erleben" zu vermuten. Eine Annahme, die von der Autorin in ihrem kurzen Text gleich vier Mal geäußert wird, als sei es ausgeschlossen, dass die Pädagogin wohl erwogene rationale Gründe für ihre Ablehnung von Schwangerschaften minderjähriger Mädchen haben könnte.