Überbietung durch Reduktion

Untersuchungen zum Imaginären im Fin de siècle

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im ausgehenden 19. Jahrhundert war der Neukantianismus die fast alles beherrschende philosophische Strömung - zumindest an den deutschen Universitäten. Außerhalb des akademischen Elfenbeinturms avancierte hingegen der an Schopenhauer geschulte Pessimist Eduard von Hartmann zum Modephilosophen der Zeit. Allerdings wurde ihm der Rang alsbald von einem messianischen Eiferer streitig gemacht, der in den Jahren 1883-1885 im Namen Zarathustras ein Büchlein verfasst hatte, das geraume Zeit später zum Kultbuch avancierte und nicht nur bei aufbegehrenden Jugendlichen und Bohemiens auf begeisterte Zustimmung stieß. Auch bei Schriftstellern und bildenden Künstler erfreute sich der Verfasser des Werkes - die Rede ist natürlich von Friedrich Nietzsche - zunehmender Verehrung, wie zahlreiche literarische Werke und Gemälde bezeugen, darunter etliche den 'Übermenschen' verherrlichende Bildnisse, etwa von der Hand Adolf Soders, der Nietzsche über vereisten Gipfeln auf einem Felsen thronen lässt, den grimmen Adlerblick in die Ferne jenseits des Bildrandes gerichtet und ohne das sein nackter Körper auch nur das geringste Anzeichen einer Gänsehaut verriete. Selbst gestandene Feministinnen wie Hedwig Dohm fanden an bestimmten Ideen des ausgemachten Weiberfeindes Gefallen.

Neuerdings macht der Münchner Literaturwissenschaftler Hendrik Birus ein "imaginiertes Als-Ob" an entscheidender Stelle in Nietzsches Zarathustra-Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen aus. Eine "Philosophie des Als-Ob" stammt allerdings nicht etwa aus der Feder Nietzsches sondern aus derjenigen Hans Vaihingers, dem Begründer des Fiktionalismus, der sein an der Schnittstelle zwischen Erkenntniskritik, Willensmetaphysik und Lebensphilosophie gelegenes System im wesentlichen bereits 1876-1878 verfasst hatte, es aber erst 1911 veröffentlichte. Obgleich der von Birus nicht genannte Autor sich von Schopenhauer und Friedrich Albert Lange, dem Wegbereiter des Marburger Neukantianismus, stärker beeinflusst zeigt als von Nietzsche, ist er doch der Auffassung, dass man gerade die "Gedanken" des letzteren als "Anfänge zu einer Metaphysik des Als-Ob" bezeichnen könne. Auch wenn Vaihinger sich nicht so sehr auf Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft bezog, sondern eher auf dessen "umgedreht[n] Platonismus" ist die Idee des Als-Ob-Philosophen Nietzsche doch nicht ganz so neu, wie Birus vielleicht meint. Die von ihm vorgetragene These, der am Ende der "Fröhlichen Wissenschaft" von Nietzsche "demonstrativ vorgeführte Akt des Fingierens" als einer "Grenzüberschreitung der Alltagswirklichkeit" ermögliche allererst "die Imagination der Zarathustra-Gestalt als 'Lehrer der ewigen Wiederkunft'", findet sich in der von Christine Lubkoll unter dem Titel "Das Imaginäre des Fin de siècle" herausgegebenen Festschrift zu Ehren Gerhard Neumanns, die auf einem 1999 in München abgehaltenen Symposium fußt.

Das Fin de siècle, so Lubkoll in der Einleitung, sei von einer "Hinwendung zum Imaginären" geprägt, die einen "Reflex auf die rasanten Veränderungen der Lebenswelt" darstelle. Ihrer "unüberschaubaren und bedrohlichen Komplexität", die mit einer gleichzeitigen Zersplitterung von Erfahrung einherging, sei somit eine "utopische Konzeption eines 'Lebensganzen'" entgegengehalten worden, die sich in einer "Ausleuchtung des Imaginären" bzw. in seiner "diskursiven 'Erfindung'" niedergeschlagen habe. Die Beitragenden verwenden den Begriff des Imaginären in verschiedenen "Theoriehorizonten", die, wie die Herausgeberin betont, jedoch nicht "gegeneinander ausgespielt" werden, sondern sich gegenseitig fruchtbar machen sollen. Bezugspunkte sind insbesondere die Theorien von Cornelius Costatoriadis, Jacques Derridas, Jacques Lacans, Julia Kristevas und Wolfgang Islers, der selbst einen Text zu dem vorliegenden Buch beigesteuert hat. Nahezu alle Aufsätze sind interdisziplinär angelegt. Dennoch kristallisieren sich mehrere disziplinäre 'Schwerpunkte' heraus. Wie bereits deutlich wurde, ist hier zunächst die Philosophie und ihr Repräsentant Nietzsche zu nennen, dem sich gleich zwei der Beitragenden intensiv widmen: Neben dem bereits erwähnten Aufsatz zu Nietzsches "imaginierte[m] Als-Ob" von Hendrik Birus befasst sich Mathias Mayer mit der "Rhetorik der Lüge" bei Nietzsche und Hofmannsthal. Ihnen schließen sich musiktheoretische Beiträge u. a. zu Mahler und Wagner an, gefolgt von Erörterungen zur bildenden Kunst (etwa zu Monets "Transformation des Impressionismus" und verschiedenen Illustrationen zum Nibelungenlied) und der Literatur.

Mit nicht weniger als drei ihm gewidmeten Beiträgen zog Flaubert unter den Literaten das meiste Interesse auf sich. Doch nur einer der Beiträge gilt seinem bekanntesten Werk: Barbara Vinken wartet mit der überraschenden Lesart auf, dass es sich bei "Madame Bovary" durchaus nicht um den "realistischen Roman schlechthin" handelt, sondern um eine "allegorische Erzählung auf das Ende der Allegorien". Dabei legt sie anhand einiger Textbeispiele dar, dass die zentralen Komplexe der Bovary-Forschung - Liebe, Lesen, Essen - um einen vierten kreisen, der das eigentlich Thema der Erzählung sei: "der Nexus der geistlichen Speise". Dieser poetologische Topos sei die "verborgen strukturierende Matrix", auf der die gesamte Darstellung beruhe, ohne dass sie einem "am Fortgang der Ereignisse interessierten Blick" als "primäre[r] Gegenstand der Erzählung" sichtbar werde. Ihre ebenso innovative wie interessante Lesart versteht die Autorin mit einigen goutanten Aphorismen zu würzen.

Führt Barbara Vinken die Trias der Bovary-Forschung zusammen, so widmet sich Manfred Schneider der Trias der "ästhetische[n] Medien" Literatur, Musik und bildender Kunst, die er durch eine "radikale Fraktion der Moderne" reorganisiert sieht. Sie schließe zum einen an "die ästhetischen und sezzesionistischen Revolten" des Fin de Siécle an, gehe aber zum anderen auch auf Grundsätze zurück, die von der Historie der "ikonoklastischen Dogmatik" zur Verfügung gestellt werden. Sein Ansatz führt ihn zu dem Schluss, dass sich "alle radikalen Kunsttendenzen der Moderne" als "Reduzierung" beschreiben lassen, die paradoxer Weise durch "gewalttätige Überbietung" erreicht werden. Denn die radikale Moderne sei "von dem teleologischen Eifer durchdrungen", "sich selbst als Ende oder Ziel einer Überbietungsgeschichte auszurufen". In dieser Hinsicht, so stellt Schneider zu Recht fest, sei Immanuel Kant der "theoretische Ahnherr" der Moderne. Zwischen Kants Tod 1804 und dem von Schneider untersuchten Zeitraum liegt nun allerdings ein ganzes Jahrhundert. So scheint dem Autor entgangen zu sein, dass nicht erst die "ikonoklastische Moderne" die "Überbietung aller Überbietungen" betrieb, "indem sie mit sich selbst die Überbietungsgeschichte schließt", sondern zwischenzeitlich etwa auch schon Hegel, der den Weltgeist in seiner Philosophie zu sich selbst gekommen sah, oder Marx, der die Philosophie in ihre Verwirklichung zum guten Ende und somit die Weltgeschichte zum Stillstand brachte.

Ein Band über das Imaginäre des Fin de siècle wäre kaum vollständig zu nennen, wenn ein Beitrag über Artur Schnitzler fehlen würde. Ihn liefert Albrecht Koschorke, der das "Ineinanderverwobensein" von Blick und Macht am Beispiel der monologischen Erzählung "Fräulein Else" beleuchtet. Denn das "Signalement der Blicke", mit denen sich Männer und Frauen gegenseitig "taxieren" zugleich "phantasmagorisch zurichten", sei ein "wichtiges Indiz" für die "zwischengeschlechtlichen terms of trade". Von den frühen Anatol-Erzählungen bis hin zum Spätwerk der "Traumnovelle" sei eines der Leitthemen Schnitzlers die "epistemologische Notwendigkeit" der gegenseitigen Verfehlung der Geschlechter in diesem "Hin und Her der Attributionen", bei dem sämtliche "Wahrheitsproben" und "Bemühungen um Übereinkunft" zum Scheitern verurteilt seien. Dieses "reflexive Verhältnis zwischen Angeblicktwerden und Sich-Zeigen", zwischen der "Macht der Zuschreibung" und der "Gegenmacht ihrer Entwendung" buchstabiere die Novelle "Fräulein Else" in "katastrophischer Zuspitzung" aus. Die "Darbietung weiblicher Nacktheit" sei eine Pathosformel an der Frauen teilhaben, gleichgültig, wie "die genaue Art der weiblichen Partizipation" jeweils zu bestimmen sei. Auch in Schnitzlers Erzählung korrespondiere Elses "ausgeprägte exhibitionistische Lust" mit dem Voyeurismus ihres Erpressers. Koschorke stellt die verallgemeinernde These auf, dass zwischen dem männlichen Zuschauer und der sich entblößenden Frau "ein auf bestimmte Weise konsensuelles und geradezu vertragliches Verhältnis" bestehe. Daraus lasse sich schließen, dass es hier "keine Preisgabe der Frau als 'Objekt'" und "keine einseitige Machtausübung des Mannes" gebe. Eine Sichtweise, die nicht nur darum bedenklich ist, weil sich diese Behauptung mit gleichem Argumentationsgang auf Prostitution anwenden ließe. Eine Parallele, die der Autor selbst zieht, wenn er - nun allerdings nicht zu Unrecht - feststellt, dass die "eigene Präsentation" ebenso zum "Warencharakter" der Striptease-Tänzerin wie zu dem der Prostituierten gehört. Beide müssten sich "anbieten" und seien "Ware und Verkäuferin in einer Person". Sein Schluss aus diesem 'Doppelcharakter' der 'Ware' Stripperin ist dann allerdings nur schwerlich nachzuvollziehen: sie setze sich "ostentativ in den Besitz der eigenen Reize" und zelebriere "ein autoerotisches Ritual". Der Striptease führe die "Souveränität des weiblichen Begehrens" vor, das den Mann ausschließe, ihn "nicht mehr als beherrschende Instanz" zulasse, sondern nur noch als "gleichsam parasitäre Randerscheinung". Mit der gleichen Logik und unter der gleichen Ausblendung von geschlechterhierarchischen Herrschaftsverhältnissen ließe sich das wohl auch von für Männer gedrehte 'lesbische' Pornos behaupten.

Was nun Schnitzlers Erzählung betrifft, so gibt sich Else zwar lustvollen exhibitionistischen Phantasien hin, doch Koschorkes Identifizierung dieser Phantasien mit einer vermeintlichen Lust Elses, sich zu exhibitionieren, überzeugt alleine schon deshalb nicht, weil die Verwirklichung sexueller Phantasien alles andere als lustvoll sein kann. Daher ist auch seine Folgerung nicht plausibel, dass sich in Schnitzlers Erzählung die voyeuristische Lust des Mannes und die exhibitionistische Lust der Frau verfehlen. Dass Koschorke sich dabei mit dem um seine Lust geprellten Dorsay identifiziert, wird deutlich, wenn er feststellt, dass Else Dorsay die Situation "entwendet". Ein Ausdruck, der die 'Illegitimität' von Elses ,Vertragsbruchs' konnotiert.

Kein Bild

Christine Lubkoll (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposion für Gerhard Neumann.
Rombach Verlag, Freiburg 2001.
519 Seiten, 50,20 EUR.
ISBN-10: 3793092720

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch