Die Unvollendete
Oskar Negt versammelt 15 Positionen zum unvollendeten Projekt Rot-Grün
Von Thomas Krumm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls im Wahlkampf 1980 Franz-Josef Strauß für die Unionsparteien ins Rennen ging, gelang es ihm spielend, Sozial- und Geisteswissenschaftler, Publizisten und Schriftsteller, also sogenannte Intellektuelle, gegen sich aufzubringen. Als zweiundzwanzig Jahre später sein politischer Ziehsohn mit zunächst glänzenden Umfragewerten für die Union ins Rennen zog, war Vergleichbares kaum zu vernehmen. So hat man es schwer herauszufinden, wie Intellektuelle, die der Sozialdemokratie oder Rot-Grün nahe stehen, über das rot-grüne Projekt denken. Öffentlich Partei zu ergreifen wagen wenige, die Polarisierungen werden inszenierter, medialer, symbolischer.
Ist es die Enttäuschung, dass das Ende der 90er Jahre erhoffte Zeitalter der Sozialdemokratie in London, Paris und Berlin so gänzlich anders aussah als erwartet? Ist es die Enttäuschung, dass die Tendenzwende gegen den Neoliberalismus nicht geschafft wurde oder dass sie von "ihrem" Bundeskanzler in die "Abteilung Wolkenschieberei" abgeschoben wurden? Ist es das Leiden der verbeamteten Intellektuellen an den Reformen des Wissenschaftssystems, die einem die Lust auf rot-grüne Reformen zu vertreiben drohen?
Von den fünfzehn Briefen mehr oder weniger bekannter Intellektueller an fünfzehn mehr oder weniger einflussreiche Politiker, die an die "Briefe zur Verteidigung der Republik" (Böll) des Herbstes 1977 erinnern sollen, stammen ganz zwölf aus dem Bereich der Hochschullehre, einer Sphäre also, die in besonderer Weise an den rot-grünen Reformen zu leiden scheint. So beklagt etwa Karin Hausen den Schlagwort-Eintopf HRG-Novelle, mit der ganze Wissenschaftlerkohorten als "personifizierte Fehlinvestition" abgebucht werden sollen. Im Gegensatz dazu konstatiert Michael Schuhmann (hinsichtlich des Projekts der "Humanisierung der Arbeit") in seinem Brief an die Ministerin: "Ja, ihre Politik ist auf dem richtigen Weg, und ich habe keinen Anlaß, hier einen Klagebrief zu schreiben."
Die kurzen brief- und diskussionsförmigen Positionsmarkierungen schwanken zwischen enttäuschten Hoffnungen auf "durchgreifende Veränderungen" (Beitrag Morgenroth), dem Generalverdacht, dass auch die Sozialdemokraten inzwischen einem neoliberalen Weltbild folgen (Staek) und der Hoffnung auf einen zweite Chance, einen zweiten Anlauf, in dem dann auch "entschiedener als bisher auf den Privatreichtum zurückgegriffen wird, der zu wenig produktiv zum Gemeinwesen beiträgt" (Negt). Dieser Topos zieht sich auch durch Negts Argumentation in der abschließenden Diskussion mit Günter Grass. Negts Wunsch nach Strukturveränderungen von Arbeit und Arbeitsgesellschaft, nach dem Hinterfragen des blinden Vertrauens in die Marktgesetze wird von Grass überraschenderweise mit dem Hinweis beantwortet, das es "diese Art von Unbeweglichkeit" auch bei den Gewerkschaften gebe, die sich viel zu wenig um die Arbeitslosen gekümmert hätten.
Die einzelnen Positionsmarkierungen schwanken zwischen neuen Ansprüchen und neuer Bescheidenheit. Ansätze zur Selbstreflexion über die veränderte Lage der Intellektuellen, über veränderte Gehör- bzw. Einflusschancen, die über eine larmoyante Klage an die Politik hinausgehen, sind in dem von Negt herausgegebenen Sammelband rar. Der Wahlkampf 2002 hätte auch dem letzten Idealisten klarmachen können, dass es in der Politik nicht primär um Wahrheit oder Richtigkeit geht, sondern um Mehrheit. Das kann man natürlich bedauern, oder einfach ignorieren, man sollte sich aber immer vor Augen halten, dass sogenannte Philosophenkönige, besserwisserische Dünnhäuter im Stile Lafontaines in der Politik keine großen Chancen mehr haben. Dabei ist die Lektion des Schröderschen Pragmatismus ganz einfach: Verzicht auf den Primat des Intellekts. Statt dessen hält der "Triumph des Willens" Einzug, für den zum Beispiel auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen nur Mittel zum Zweck sind. Das offenbart einen ganz eigene, konsequent politische Rationalität. Die veränderte Situation gegenüber 1998 ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass in der (rot-grünen) Politik weniger Intellektualität und Visionäres gefragt sind als vielmehr ein ausdauernder Wille zum leidenschaftlichen Bohrer dicker Bretter. Größere Weichenstellung sind in der zweiten Amtszeit des unvollendbaren Projekts nicht mehr zu erwarten. Statt dessen geht es um Durchsetzungs- und Durchhaltewillen, nicht nur in der Sparpolitik, bei den Hartz-Vorschlägen, dem Stabilitätspakt und dem Atomausstieg. Gemessen an einigen der von Negt gesammelten Erwartungen wird Rot-Grün also auch in vier Jahren ein unvollendetes Projekt sein.
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