Selbstgespräch im Angesicht des Todes

Evelyn Grills Erzählung "Hinüber"

Von Aline WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aline Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sterben, das müssen wir alle, sage ich und denke, was geht in dir vor, Bruder, was fühlst du, wie schmeckt die Todesangst, hoffst du noch?" Diese Frage hätte die Hauptfigur in Evelyn Grills Erzählung ihrem sterbenden Bruder gerne gestellt. Die Frage bleibt unbeantwortet, denn die Schwester hat nicht den Mut, das Schweigen über den Tod zu brechen. Die Erzählung schildert den Leidensweg des 45-jährigen Willi Zirnsack, der an unerklärlichen Rückenschmerzen leidet. Auf der Suche nach dem Entzündungsherd, der ihm die unerträglichen Schmerzen verursacht, läßt sich Willi anfangs die Zähne ziehen. "Alle auf einmal" fordert der Leidende, und es wirkt wie eine Verzweiflungstat. Seine Zähne ist er los, aber die Schmerzen bleiben. Für den jüngeren Bruder der Erzählerin beginnt nun eine Odyssee durch mehrere Krankenhausstationen, es werden verschiedenste Diagnosen gestellt und entsprechende Behandlungen vorgeschlagen. Es stellt sich jedoch keine Besserung ein.

Die Schwester rechnet von Anfang an mit dem Allerschlimmsten; lange bevor die Diagnose Krebs gestellt wird, befürchtet sie, daß ihr Bruder sterben wird. Die ungewisse, aber ständig präsente Ahnung von dem Tod macht ihr die eigene Sterblichkeit bewußt und erinnert sie an die Dringlichkeit einer Lösung ihrer Lebensproblematik. Das Verhältnis der Geschwister erscheint in der Erinnerung der Erzählerin als Konkurrenzkampf, bei dem sie sich als ewige Verliererin sieht. Im Gegensatz zu ihr stand der Bruder mühelos im Mittelpunkt, während sie ständig um Aufmerksamkeit der Familienmitglieder kämpfte: Ihr Bedürfnis nach Anerkennung wurde erfüllt. An den frühen Tod ihres Vaters erinnert sie sich und an den Tod der Nachbarin, von der sie sich bedingungslos geliebt fühlte. Vor ihrem Freitod rettete sie damals ihr Bruder. Es wird ihr deutlich, daß nun die letzte Chance gekommen ist, sich mit ihrem Bruder auszusprechen, um alten Schmerz nicht länger zu verdrängen.

Sie konfrontiert sich mit unangenehmen Erinnerungen, die räumliche Distanz, die sie zu ihrer Familie geschaffen hat, verliert ihre schützende Funktion. Mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und der Frau ihres Bruders steht sie in ständigem telefonischen Kontakt. Man versucht, sich gegenseitig zu beruhigen, sich über den hoffnungslosen, sich ständig verschlechternden Zustand des Bruders, die Unausweichlichkeit desTodes hinwegzutäuschen. Das Telefon wird zur Bedrohung, weil es jeden Moment die Todesnachricht verkünden könnte. Das illusorische Hoffen, die Angst vor dem Tod, die keine Ausdrucksmöglichkeit findet beherrschen von nun an ihren Alltag.

Evelyn Grill reißt den Leser im Erzähl- und Gedankenfluß ihrer Hauptfigur mit. Nur wenige Daten über die Lebensgeschichte der Hauptfigur reichen aus, um ein plastisches Bild zu zeichnen, das oft widersprüchliche Handeln der Schwester zu motivieren. Nicht die Genesung des Bruders ist zu erhoffen, sondern die Heilung der "gesunden" Schwester, deren Wunde die Verdrängungen sind. Die letzte Chance, die Gespräche, die sie gedanklich mit dem Bruder führt, zu realisieren, bleibt aus Mutlosigkeit ungenutzt. Bereitwillig wird sie Teil des Schauspiels, das die Anderen aufführen, um den Krebskranken bei Laune zu halten. Am Ende bleiben ihr nur Täuschung und Selbsttäuschung.

"Hinüber" ist ein Selbstgespräch über den Tod und das Loslassen, zugleich ist es die Geschichte einer Frau, die einen heilsamen Bewußtseinsprozess durchlebt. Die Geschichte schmeckt bitter und warnt hallend nach: Sprich aus, was dich bewegt, bevor es zu spät ist. Und ein bißchen leiser: Du mußt loslassen, um neu anzufangen.

Titelbild

Evelyn Grill: Hinüber. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
107 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3518120972

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