"Ich erlebe die jetzige Zeit als äußerst bedrohlich"

Ein Gespräch mit Urs Widmer, dem neuen Mainzer Stadtschreiber

Von Manfred StuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Stuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schweizer Autor Urs Widmer (64) wird im Jahr 2003 neuer Mainzer Stadtschreiber. Der Titel, die den Stadt Mainz sowie die Fernsehsender 3sat und ZDF jährlich vergeben, ist mit 12 500 Euro und freiem Wohnen im Renaissanceflügel des Gutenberg-Museums dotiert. Er schrieb ca. 50 Bücher, darunter "Der Geliebte der Mutter". Sein neues Buch heißt "Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück", es versammelt Kolumnen und Essays.

Stuber: Herr Widmer, als echter Büchermensch haben Sie eine eher unspektakuläre Biographie. Sie schrieben mal, ein literarisches Leben sei eine Art Ersatz für das wirkliche Leben und insofern nur die zweitbeste Möglichkeit.

Widmer: Das private Leben eines Schriftstellers ist oft banal. Kafka war am Gasthaustisch vermutlich eine wenig ergiebige Figur, vergleicht man es mit der Großartigkeit seiner Werke. Ich finde aber, das Schreiben ist nicht die zweitbeste Möglichkeit. Für mich ist es eindeutig die beste. Ich bin am besten bei mir, am glücklichsten, wenn Sie so wollen, während ich schreibe.

Stuber: Schreiben ist bei Ihnen ein Reisen im Kopf?

Widmer: Der Urmotor meines Schreibens war sicher eine gewaltige, nicht zu bändigende Sehnsucht nach ich weiß nicht was. Ich habe in vielen Büchern dafür die Metapher des Reisens gefunden. Ich bin übrigens in jüngeren Jahren auch real viel gereist. Ich sehe diesen Thomas-Mann-Konflikt entweder nicht oder nicht mehr. Literatur ist für mich nicht Ersatz, sie ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber natürlich habe ich auch ein Leben außerhalb meiner Bücher.

Stuber: Die Frage "Warum schreiben Sie?" ist für Sie keine dumme, sondern eine kluge Frage. Sie sei nur schwer zu beantworten, sagen Sie. Der Grund habe etwas mit Not, mit Leid, mit einem Defizit zu tun.

Widmer: Ich glaube, nein, ich bin sicher, dass es eine Literatur ohne ein Leiden nicht gibt. Es gibt ja auch keine Menschen ohne Leiden. Darum schreibt man auch als Stellvertreter seiner Leser. Man schreibt ja nicht blind ins Schwarze hinaus. Ja, da ist, wenn Sie wollen, ein Defizit, ein schwer benennbarer blinder Kern des Leidens, an den man sich immer wieder herantastet und natürlich stört man schreibend viele Ungeheuer auf. Aber mir ist ebenso wichtig zu sagen, dass der Schreibvorgang selber auch lustvoll ist. Es klappt nur, wenn Sie gleichzeitig in der zweiten Hand etwas wie einen Überfluss haben. Einen Überschuss an Kraft, an Lust, an Spielfreude, an Formnotwendigkeit. Erst wenn diese beiden Dinge zusammentreffen, entsteht Literatur.

Stuber: Sprache, sagen Sie, war bei Ihnen schon vor dem Inhalt da. Sprache als Möglichkeit, etwas schön zu sagen. Aber auch die Wahrheit spielt in der Sprache eine wesentliche Rolle, die individuelle Wahrheit. Kann man wirklich sagen, was in der Sprache Wahrheit ist?

Widmer: Ich glaube nicht an Wahrheit im Sinne einer Zeugenaussage. Aber es gibt eine Art Evidenz, wo Sie plötzlich wissen: Jetzt lüge ich nicht mehr. Und das hängt, meine ich, sehr stark mit der Sprache zusammen, in der Sie schreiben. Mit der Melodie. Ich glaube, alle Schriftsteller der ernsthaften Art haben eine Melodie, an der man sie erkennt, so wie man schon nach wenigen Takten sagen kann: Das ist Schubert! So erkennen Sie Robert Walser. So erkennen Sie Kafka. So erkennen Sie Tschechow. Oder Flaubert, der versuchte, keinen Stil zu haben, und doch soviel davon hat. Und das wäre meine Hoffnung: So erkennen Sie auch Urs Widmer. Natürlich gibt es aber auch Inhalte. Ich erzähle eine Geschichte. Ich mache nicht Musik.

Stuber: Und diese Melodie hat also auch etwas mit subjektiver Wahrhaftigkeit zu tun. Wenn jemand seine Melodie nicht findet, kann er nicht lauter sprechen?

Widmer: Es ist etwas vom Allerschönsten und Beglückendsten, wenn Sie plötzlich merken, jetzt haben Sie eine vielleicht noch nie gesungene Melodie gefunden, und sie ist Ihre Melodie. Die kann Ihnen niemand mehr wegnehmen. Das sind Sie, der das singt. So dass man beinahe sagen könnte, die Inhalte kommen dann erst in zweiter Linie. Aber in Wahrheit ist es natürlich nicht so. Es ist ein untrennbares Ganzes.

Stuber: Der Inhalt ergibt sich bei Ihnen häufig aus vorgefundenen Mustern der Trivialmythen, aus Comic, Slapstick, Krimi, Märchen. Das Material ist oft ein beliebiges Spielmaterial.

Widmer: Das war einmal, würde ich sagen. Ich habe das früher sehr stark gemacht. Natürlich auch unter dem Eindruck bestimmter Zeitströmungen. Das war auch nicht falsch. Dahinter steckte auch die Verzweiflung des jungen Autors, der mehr Form als Inhalt hat. Inzwischen bin ich ein alter Herr geworden oder etwas ähnliches und bin natürlich auch mehr gesättigt mit real Erfahrenem. Ich habe das, was Sie ansprechen, aus meiner Prosa ziemlich stark verloren. Die letzten Bücher, insbesondere "Der Geliebte der Mutter", versuchen doch, ohne diese Techniken auszukommen, mit welchem Gelingen auch immer.

Stuber: Das Kind Urs Widmer hat schon sehr früh die Beobachtung gemacht, dass die Erwachsenen lügen. Der erwachsene Autor versucht immer wieder, diese kindliche Wahrhaftigkeit zu beleben. Ist der Autor immer noch auch das Kind?

Widmer: Ja. Ein Autor ohne kindliche Anteile ist mir schwer vorstellbar. Aber er ist natürlich auch ein Erwachsener. Ein Autor kann, was Nichtschreibende nicht so leicht können, jede Erfahrungsschicht und Erfahrungszeit gleichzeitig mobilisieren. Er kann zum Beispiel auch eine Frau erfinden. Wenn Frauen das dann lesen, sagen sie oft: Das ist glaubhaft. Woher weißt du das? Ich habe in der Tat ganz früh angefangen, die Welt zu deuten. Genauer gesagt: das Sprechen der Menschen in ihr. Weil ich das Gefühl hatte, man lügt mich an. Ich hätte auch Psychoanalytiker werden können. Das ist ein ganz ähnliches Vorgehen. Ich habe aus den Leerformeln, aus den Abwehrsprachhaltungen, aus den "Lügen", aus den erwarteten und den verbotenen Lügen versucht, eine Wahrheit herzustellen, also die Welt zu deuten. Im Grund genommen bin ich mit dieser Sache immer noch beschäftigt.

Stuber: Der Autor macht das auch stellvertretend für die Gesellschaft. Sie schickt ihn sozusagen vor, um das Feld zu erkunden. Weil es zu riskant wäre, in der Wirklichkeit wahrhaftig zu sein.

Widmer: Ich fühle mich als ein solcher Stellvertreter. Ich schreibe im Grunde die Geschichten meiner Leser. Ich schreibe nicht unbedingt von mir. Natürlich sind alle meine Geschichten wie durchtränkt von mir, aber das Ich ist nie ein Geständnis-Ich. Selbst da nicht, wo es so aussieht. Ja, wir sind Stellvertreter. Das schützt uns und gleichzeitig macht es uns auch so verletzlich.

Stuber: Sprache hat bei Ihnen eine magische Qualität. Es ist fast, als hofften Sie, mit Sprache die Wirklichkeit zu formen, zu beeinflussen. Das hat etwas Schamanisches. Als aufgeklärter Mensch denkt man: Das geht nicht wirklich. Man kann mit Sprache nicht auf die Welt einwirken. Aber der Autor muss es wohl glauben.

Widmer: Ich glaube nicht unbedingt, dass man mit Sprache die Wirklichkeit beeinflussen kann. Aber der Vorgang des Schreibens hat viel mit Magie zu tun. Mein Umgang mit Sprache ist sicher magisch. Aber das schließt nicht aus, dass ich ein von einer gewissen Rationalität geprägter Mensch bin. Auch durch mich ist die Aufklärung hindurch gelaufen. Einer meiner Götter ist Diderot. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Schreiben hat für mich viel mit Magie zu tun.

Stuber: Ihr erfolgreiches Theaterstück "Top Dogs" über die Entfremdungen in der Managerszene ist wohl ihr Werk mit der prägnantesten politischen Aussage. War das ein Ausreißer?

Widmer: Das stimmt so nicht. Im Theater bin ich schon sehr früh direkt politisch gewesen. Ich habe ein Stück über den Schweizer Gesandten bei Hitler geschrieben: "Frölicher - ein Fest". Das Stück hat vieles von der heutigen Schweizer Diskussion vorweggenommen. Ich habe ein hochpolitisches Stück, das heißt "Jeanmaire. Ein Stück Schweiz"". Da habe ich geradezu ausgetestet, wie nahe man an die Zeitgeschichte heran gehen kann. Es hat einen gegenwärtigen Justizskandal behandelt, in dem unsere Minister auftraten. Das war sehr heikel. Es sind hochpolitische Stücke. "Top Dogs" hat nur überdurchschnittliche Aufmerksamkeit gefunden und findet sie immer noch. Die Dinge sind ja nicht viel anders geworden. Das Stück handelt von der Ökonomie. Es gibt ja kaum Stücke zur Ökonomie, weil sie so schwer darstellbar ist.

Stuber: Die magische Kraft der Sprache wird besonders dann gebraucht, wenn kollektive Bedrohungen vorhanden sind. Dann steigt der Wunsch nach Möglichkeiten, die Wirklichkeit widerlogisch zu beeinflussen. Wir haben ja derzeit wieder starke kollektive Bedrohungen.

Widmer: Natürlich! Ich erlebe die jetzige Zeit als äußerst bedrohlich. Ich hoffe, dass wir Dichter nicht gezwungen werden, die letzten Schamanen zu sein, dass wir uns wieder in Priester zurück verwandeln müssen. Das wäre ein Zeichen des Endes, von dem ich nicht hoffe, dass es uns nahe ist. Je größer die Bedrohung ist, desto mehr suchen die Menschen den Trost. Ein Trost ist auch die Literatur, übrigens eine Funktion, die ich für legitim halte.

Stuber: Sie ist aber auch ein Versuch, die Wirklichkeit zu transzendieren.

Widmer: Zu beschwören, sicher.

Stuber: Sie haben mal geschrieben, Ihre Bücher seien auch Forschungsreisen ins Innere Ihrer Ängste. Auch das ist der Autor ein Pionier. Ängste sind ja zur Gesellschaftskrankheit geworden unter dem Druck des Turbokapitalismus. Kann Literatur gegen Ängste helfen?

Widmer: Ja, wissen Sie, therapeutische Funktionen kann die Literatur nicht übernehmen, weder für den Leser, noch für den Schreiber. Für den Schreiber schon deshalb nicht, weil sie zur einen Hälfte auf Erkenntnis ausgeht und mutig auf diese Ängste losgeht. Zum anderer Teil tut sie alles, um diese Ängste abzuwehren und zu vermeiden. So dass wir am Schluss eine Art Nullsummenspiel haben, das Form geworden ist. Das der Leser dann deuten kann. Ich weiß es nicht, aber man kann als Leser doch ein lesendes Leben verbringen und hat dadurch einen stetigen Zugewinn von Erkenntnis, Schönheit, Ahnungen, neuen Sichten, die am Schluss vielleicht sowas wie etwas Lebensveränderndes haben. Das Wort Therapie möchte ich vermeiden.

Stuber: Es ist ja schon eine Erlösung für den Leser, wenn er sieht, dass seine vermeintlich einsamen Ängste öffentlich formuliert werden.

Widmer: Ja, er ist nicht allein. Ich bin ja auch ein Leser. Es ist eine ungeheuere Erleichterung, wenn ich merke: mein Gott, da gibt es Leute, die denken ähnlich merkwürdige Sachen wie ich. Die hoffen ähnliche Dinge wie ich. Und es gibt nicht nur diese manchmal so brutale, stumpfe Welt. Es gibt auch eine andere.

Stuber: In Ihrem neuen Band mit Kolumnen und Essays steht der Satz: "Geld schafft Tod". Es gibt aber keine Alternative zum Geld.

Widmer: Natürlich nicht. Es gibt im Augenblick nicht einmal eine Alternative zum Kapitalismus. Nicht nur wegen der politischen Kräfteverhältnisse, auch weil wir kein schlaueres System gefunden haben. Auch wenn wir uns einig sind, dass des kapitalistische System, so wie es jetzt funktioniert, unmenschlich ist und dass es, wenn wir nicht untergehen wollen, menschlicher gemacht werden muss. Ja, das ist auch etwas Wichtiges: Man muss lernen, dass bestimmte Probleme nicht lösbar sind, jedenfalls nicht radikal, eventuell teilweise. Man muss lernen, mit dem offenen Rest auszukommen, den Schmerz auszuhalten.

Stuber: Wenn man Urs Widmer liest, kann man kaum ein Vorreiter der Börsenmentalität sein.

Widmer: Das würde mich erstaunen.

Stuber: Man wird zum Geld eine eher distanzierte Haltung haben. Das hat ja für den Einzelnen vielleicht auch schon Konsequenzen.

Widmer: Wir wissen, Geld macht nicht glücklich, aber kein Geld macht unglücklich. In diesem Dilemma bewegen wir uns. Was ich in diesem Essay sage, ist heute viel öffentlicher als noch vor zwei Jahren, als ich ihn schrieb. Weil der Größenwahn der Ökonomie einen derart sichtbaren Knacks bekommen hat, dass es nicht mehr so laut gesagt werden muss. Obwohl ich mich wundere: Man muss es zwanzig Mal sagen. Wissen Sie, wenn es jetzt gelingt, dass der Größenwahn der Wirtschaft implodiert, ohne dass wir maßlos darunter leiden müssen, das wäre sehr wünschenswert.

Stuber: Sie setzen auch die demokratische Verfassung gegen die hierarchischen, mitunter faschistoiden Strukturen der Wirtschaft. Im Grunde sind diese beiden Prinzipien ja nicht vereinbar.

Widmer: Überhaupt nicht. Man lebt in einem dauernden Widerspruch. Das erstaunliche daran ist, dass viele Menschen das gar nicht spüren.

Stuber: Glauben Sie, man könnte demokratische Prinzipien auch in der Wirtschaft einführen?

Widmer: Selbstverständlich würde das Sinn machen. Das ist zum Teil auch geschehen. Wir haben zum Beispiel den Verlag der Autoren gegründet, ein kleines Unternehmen, das aber doch einige Millionen Umsatz im Jahr macht. Das ist nicht nichts! Und das immer schwarze Zahlen schreibt. Das nach streng basisdemokratischen Grundsätzen geführt wird, nach einem durchschaubaren Modell. Der Verlag gehört den Autoren des Verlags und zwar allen. Und es funktioniert. Ich weiß nicht, ob so was auch bei sehr großen Unternehmen geht, wohl eher nicht, aber ich bin der schieren Größe gegenüber sowieso skeptisch.

Stuber: Die hierarchischen Strukturen sind ja das, was den Menschen Angst einjagt und ihnen die Identität raubt.

Widmer: Natürlich!

Stuber: Das wäre gut, wenn man daran drehen könnte.

Widmer: Wie viele Generationen drehen schon dran! Wir sind nicht besonders weit gekommen.

Stuber: Schreiben, sagen Sie, ist für Sie auch Todesabwehr. Solange man schreibt, stirbt man nicht. Aber man schreibt ja nicht wirklich, um nicht zu sterben, sondern man schreibt, solange man nicht gestorben ist.

Widmer: Es gibt diese Vorstellung, diesen Traum, dass ich nicht sterben kann, solange das Werk nicht fertig ist. Darum ist es gefährlich, ein Buch fertig zu stellen. Natürlich weiß mein rationaler Teil, dass das Mumpitz ist. Besonders mit fortschreitendem Alter. Ich bin in den letzten zehn Jahren nicht immer gesund gewesen. Ich habe durchaus eine Ahnung von der Sterblichkeit des Menschen. Aber in solch wunderbaren Illusionen vermag Literatur einen auch manchmal zu behüten.

Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit die Angst, das Glück.

Diogenes Verlag, Zürich 2002.

270 Seiten, 19,90 EUR.

ISBN 3-257-06331-8


Titelbild

Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
270 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3257063318

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