Liebe, Ehe und Familie in der Literatur

Hinweise zu neueren Forschungen über ein altes Thema

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Konstruktion der heute noch wirksamen Geschlechterstereotype 'weiblich' und 'männlich' wäre ohne die Durchsetzung der modernen, 'bürgerlichen' Kernfamilie im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Familienforschung und Gender-Studien sind daher dringend aufeinander angewiesen. In der Dynamik familiärer Mutter-Vater-Tochter-Sohn-Beziehungen werden die Geschlechterrollen vorgeführt, gelernt, verinnerlicht und ständig modifiziert. Die Familie als maßgebliche Sozialisationsagentur moderner Gesellschaften lehrt, welche sozialen Rollen besser von Männern und welche von Frauen besetzt werden sollten, wie sich Männer und wie sich Frauen bei der Übernahme gleicher Rollen 'geschlechtsadäquat' zu verhalten haben, was an 'femininen' oder an 'maskulinen' Eigenschaften von ihnen erwartet wird, mit welchen Sanktionen zu rechnen ist, wenn Mann oder Frau, Junge oder Mädchen gegen die Erwartungen verstoßen. In jüngerer Zeit fanden darüber hinaus die innerhalb der Geschlechterverhältnisse wirksamen Machtmechanismen verstärkte Aufmerksamkeit.

Literatur bildet diese komplexen Familienkonstrukte und Geschlechterordnungen, die den Beteiligten zur 'zweiten Natur' geworden sind, modellhaft ab, bestätigt sie, stellt sie in Frage, reflektiert sie, wirkt mit an ihrer Fixierung oder Veränderung, spielt neue Entwürfe durch. An der permanenten Konstruktion und Modellierung der Geschlechterrollen und familiären Beziehungsmuster ist sie in nicht unerheblichem Maße beteiligt.

Literatur ist nicht zuletzt selbst in familiäre Formen kommunikativen Handelns eingebunden: indem etwa Tochter oder Sohn aus dem Mund der Eltern oder Großeltern jene Geschichten erzählt, vorgesungen oder vorgelesen bekommen, die von guten oder schlechten Töchtern, Söhnen, Müttern oder Vätern handeln. Literatur ist ein Medium familiärer Kommunikation und Selbstverständigung, im 18. und im 19. Jahrhundert gewiss weit stärker als in Zeiten der Medienkonkurrenz, doch noch heute ist ihre prägende, über die multimedialen Vermittlungsmöglichkeiten oft potenzierte Kraft nicht zu unterschätzen.

Die literarischen Reflexionen familiärer Beziehungen wurden seit dem 18. Jahrhundert derart beliebt, dass die Familie sogar in die metaliterarische Begrifflichkeit einging: Das 'Familiendrama', der 'Familienroman' oder die 'Familienblätter' wurden zu charakteristischen Gattungen und Medien des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie hatten lange Zeit innerhalb der Massenkultur ein ähnliches Gewicht wie heute die 'Familienserien' im Fernsehen. Das Vergnügen, das sie offerierten, schloss kaum jemanden aus, nachdem nicht mehr, wie noch in der frühen Neuzeit, vornehmlich Herrscherfamilien mit ihren politischen Machtkämpfen im Mittelpunkt standen. Denn die Identifikation mit den handelnden Figuren und das Wiedererkennen eigener Erfahrungen vollzieht sich in der Regel in jener privaten Sphäre der Familie, die fast alle Rezipienten irgendwie kennen, in der sie als Kind gelebt haben und in der sie als Erwachsene häufig wieder leben.

Für weite Teile der Literatur und ihre Leserschaft bekommt seit dem 18. Jahrhundert die intakte und vollständige Kleinfamilie den Rang eines höchsten Gutes, gegenüber dem sich das Handeln, Denken und Fühlen jedes Einzelnen zu bewähren hat. Das Phantasma der heilen Familie übt einen ungeheuren Sog auf die literarische Phantasiebildung aus. Die narrativen Muster der Dramen, Novellen, Romane oder Balladen sind vom Begehren nach ihr auf vielfältige Weise geprägt. Zwar fällt es der Literatur nach wie vor schwer, dem eher als langweilig denn als interessant geltenden Sujet der Ehe eine die Handlung tragende Bedeutung zuzuschreiben. "Warum", fragt Kant, "schließt ein Liebesroman mit der Trauung, und weswegen ist ein ihm angehängter Supplement-Band (wie im Fielding), der ihn, von der Hand eines Stümpers, noch in der Ehe fortsetzt, widrig und abgeschmackt? Weil Eifersucht, als Schmerz der Verliebten, zwischen ihre Freuden und Hoffnungen, vor der Ehe Würze für den Leser, in der Ehe aber Gift ist; denn, um in der Romansprache zu reden, ist 'das Ende der Liebesschmerzen zugleich das Ende der Liebe'" - und zugleich das Ende erzählter Liebesgeschichten. Eine unlängst von Bettina Becker vorgelegte Studie über "Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800" beobachtet und reflektiert auf hohem Niveau die eingeschränkten Möglichkeiten, über die auf Dauer und auf Regeln der Wiederholung abgestellte Form des ehelichen Zusammenlebens zu erzählen. Der Sehnsucht nach "ewiger Dauer" der Liebesbeziehung steht die Realität oder Befürchtung des "ewigen Einerleis" entgegen. Aber als Bild vollkommener Einheit inmitten einer vielfältig entzweiten Welt, als Imagination vor allem auch der 'schönen' Einheit von Natur und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft fungieren Ehe und Familie wie nie zuvor. Mit Blick auf Hegel und Hölderlin handelt davon (in einer Sprache, die sich der des deutschen Idealismus angleicht) eine Arbeit von Jörg Villwock. In literarischen Texten interessieren indes vornehmlich die Gefährdungen der Familie, die Hindernisse, die der Gründung oder der Dauer familiären Glücks entgegenstehen. Sie setzen die Handlung in Gang und evozieren die Spannung. Was oder wer dem Wert der intakten Familie widerstreitet, so führt es Literatur in unendlich vielen Variationen vor, ist böse, minderwertig und verdient die Strafe der psychischen oder physischen Zerstörung. Im 18. und noch im 19. Jahrhundert ist die heile Familie der Lohn persönlicher Leistung. Sie wird, in Abgrenzung von Vorstellungen des Adels über 'natürliche' Geburtsbande und -privilegien, zum kulturellen Verdienst erklärt, das, wie neben vielen anderen Texten seiner Zeit Lessings "Nathan der Weise" vorführt, nicht unbedingt auf leiblicher Vater- und Mutterschaft gründen muss. Die 'künstliche' Familie qua Adoption wird potentiell höherwertig als die 'natürliche'. Ihre Qualität ist abhängig von bestimmten Tugenden. Und diese sind zu weiten Teilen geschlechtsspezifisch definiert.

In der literarischen Moderne etablieren sich neben und in Rivalität zu dieser Vorstellung zunehmende Zweifel an dem Wert der Institution der Ehe und der Familie, erscheinen männliche und vor allem weibliche Subjekte den Zwängen dieser von ihnen nicht mehr unbedingt gewollten Institutionen unterworfen, sind weniger Verursacher als Opfer familiären Desasters. Gerhart Hauptmann gibt seinem 1890 uraufgeführten Schauspiel "Das Friedensfest" den dafür bezeichnenden Untertitel "Eine Familienkatastrophe in drei Akten". Literarische Inszenierungen solcher Katastrophen finden sich gewiss auch schon um 1800, namentlich bei Heinrich von Kleist, doch zum Zeichen einer fundamentalen Skepsis gegenüber der Familie werden sie in der Regel erst in der literarischen Moderne, in der einer ihrer bedeutendsten Repräsentanten, Thomas Mann, mit der Geschichte des "Verfalls einer Familie" seinen literarischen Durchbruch erzielte.

Wie wichtig die historische Familienforschung für die Literaturgeschichtsschreibung sein kann, wurde erst deutlich, als sich die Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren zur Sozialgeschichte hin öffnete. Es war die Zeit, in der einer der einflussreichsten Aufsätze über den historischen Zusammenhang von Veränderungen in der Familienstruktur einerseits und in den Geschlechterrollen andererseits erschien. In einem Sammelband zur "Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas" formulierte der Beitrag von Karin Hausen bereits im Titel die Essenz ihrer Thesen: "Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere' - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben".

Die Entgegensetzung von rationaler, würdiger, aktiver und zielgerichteter, gegebenenfalls sogar gewalttätiger Männlichkeit, die den Anforderungen im öffentlichen Erwerbsleben zu entsprechen hat, und eher passiver, bescheidener, anpassungsbereiter, gütiger, gefühlvoller und anmutiger Weiblichkeit, die für die Aufgaben im häuslichen Familienleben qualifiziert, wurde so stark verinnerlicht, dass sie weithin als angemessene Beschreibung naturgegebener Unterschiede galt. In Schillers "Lied von der Glocke" hat diese Anthropologie der Geschlechtsunterschiede 1799 seine wohl populärste, allerdings schon von den Frühromantikern Schlegel und Schleiermacher verspottete Formulierung gefunden: "Der Mann muß hinaus/ In's feindliche Leben,/ Muß wirken und streben/ Und pflanzen und schaffen,/ Erlisten, erraffen,/ Muß wetten und wagen/ Das Glück zu erjagen./ Da strömet herbei die unendliche Gabe,/ Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Haabe,/ Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus./ Und drinnen waltet/ Die züchtige Hausfrau,/ Die Mutter der Kinder,/ Und herrschet weise/ Im häuslichen Kreise,/ Und lehret die Mädchen, und wehret den Knaben,/ Und reget ohn' Ende/ Die fleissigen Hände".

Über den gegenwärtigen Stand der Sozialgeschichtsschreibung und Soziologie der Familie informiert vorzüglich das inzwischen in vierter Auflage vorliegende Kompendium "Familienformen im sozialen Wandel" von Rüdiger Peuckert. In welchen wesentlichen Merkmalen sich die moderne bürgerliche Kleinfamilie, die sich im 18. Jahrhundert formierte, im 19. Jahrhundert durchzusetzen begann und in Deutschland um 1950 in ihrer wohl ausgeprägtesten Form zur sozialen Realität und kulturellen Selbstverständlichkeit wurde, von dem multifunktionalen Lebenszusammenhang des "ganzen Hauses" unterscheidet, fasst Peuckert in seinem einführenden Überblick pointiert zusammen. Die Sozialform des "ganzen Hauses" war geprägt von Erfordernissen kooperativer Arbeit und Ökonomie. Dem "Hausvater" unterstanden sowohl die verwandten Familienmitglieder als auch die Knechte, Mägde, Lehrlinge und Gesellen. Die Beziehungen zwischen allen Hausangehörigen waren tendenziell von affektneutraler Sachlichkeit geprägt. Zu den Kriterien der Partnerwahl gehörten maßgeblich Arbeitskraft und Mitgift. Kinder wurden als potentielle Arbeitskräfte angesehen und entsprechend behandelt. Der Wandel zur Kleinfamilie kann als Teilphänomen jener Prozesse funktionaler Ausdifferenzierung sozialer und kultureller Leistungen angesehen werden, durch die gesamtgesellschaftliche Modernisierungsprozesse überhaupt gekennzeichnet sind. Wie sich in modernen Gesellschaften Wirtschaft, Politik, Religion, Recht, Wissenschaft oder Kunst als relativ eigenständige Teilbereiche der Gesellschaft herausbilden, so spezialisiert sich die moderne Familie als Teilsystem der Gesellschaft auf spezifische Aufgabenbereiche. Einen Teil ehemaliger Funktionen (u.a. die Produktion von Gütern und Waren, die Ausbildung oder die Altersversorgung) gibt die Familie an andere Teilsysteme ab. Im Zentrum der modernen und privatisierten Kleinfamilie "stehen intim-expressive Funktionen (die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse nach Intimität, persönlicher Nähe, Geborgenheit, Sexualität) und sozialisatorische Leistungen." Dem entspricht die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: "Die Ehefrau und Mutter ist primär zuständig für die emotional-affektiven Bedürfnisse der Familie und für die Haushaltsführung. Dem Vater als Autoritätsperson obliegen die Außenbeziehungen und die instrumentellen Aspekte des Familienlebens."

An der Naturalisierung eines solchen kulturellen Konstrukts hatte neben der Literatur auch die Rhetorik der damaligen Medizin, der Pädagogik, der Psychologie oder der Philosophie bedeutende Anteile. Die Positionen, die hier in der intensiven Debatte über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vertreten wurden, waren keineswegs einheitlich, und sie waren vielfach auch in sich widersprüchlich. Die Geschlechtsrollenverteilung wurde in der Regel jedoch nicht mehr aus dem sozialen Stand, sondern aus dem angeblich natürlichen Geschlechtscharakter erklärt. Die damit hervorgerufene Suggestion der Unveränderlichkeit familiärer Geschlechterverhältnisse wirkte noch weit in die Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts hinein fort. Ihr entgegenzuarbeiten gehört zu einem der zentralen Motive der Gender-Studien der letzten Jahrzehnte. Ihre Versuche, Geschlechtsidentitäten vom Schein ihrer Naturhaftigkeit zu befreien, fanden in den historischen Forschungen zum Beispiel von Thomas Laqueur wichtige Unterstützung und in den theoretischen Arbeiten von Judith Butler eine Radikalisierung.

Zu der Einsicht, dass sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit letztlich niemals außerhalb der diskursiven Verfasstheit gedacht werden kann, hat vor allem Judith Butler verholfen. Ihre These, dass auch die Unterscheidung zwischen der sozialen Kategorie gender und der biologischen Kategorie sex auf einem fragwürdigen Denken in binären Oppositionen basiere, führte bis heute zu heftigen Diskussionen. Nach Butler kann überhaupt kein präkulturelles Geschlecht (sex), eine ursprüngliche 'Natur', außerhalb diskursiver Codierungen existieren. Jede sprachliche Äußerung über sex ist an dessen kulturell geprägter Definition beteiligt. Aus dieser Sicht ist also auch sex eigentlich gender, da es ja nur als "vordiskursiv" konstruiert und deshalb ebenfalls ein diskursives Produkt ist.

Die Einteilung in 'männlich' und 'weiblich' kann als "eine kulturelle Konstruktion verstanden werden", die "die Fiktion des Natürlichen bewirkt", also nur so erscheint, als sei sie völlig natürlich. Der gesuchte Effekt dieser konstruktivistischen Perspektive liegt vor allem darin, dass mit ihr verfestigte Muster des Denkens, Sprechens und Verhaltens, die den Subjekten gleichsam zur zweiten Natur geworden sind, zur Dispostion gestellt, verflüssigt und verändert werden. In der sozialen Realität sind solche Flexibilisierungen und Veränderungen seit den späten sechziger Jahren freilich längst im Gang. Sie finden in den theoretischen Diskursen reflexiven Ausdruck und Verstärkung. Die "Erosion" oder "Krise" der bürgerlichen Kleinfamilie und der ihr entsprechenden Festlegung der Geschlechterrollen, die noch nie ohne Alternativen existierten, ist seit Jahrzehnten permanenter Problemstoff ganz heterogener Diskurse.

Statistisches Zahlenmaterial, das diese Erosion belegt, findet sich in Peuckerts Standardwerk zuhauf. Hier kann man nachlesen, um wie viel die Zahl der Eheschließungen kleiner geworden ist und um wie viel größer die Zahl von Scheidungen, nicht ehelichen Lebensgemeinschaften und Kindern, erwerbstätigen Frauen, erwerbslosen "Hausmännern", nicht monogamen Beziehungsformen, gleichgeschlechtlichen Paargemeinschaften, Single-Haushalten und so fort. Allein die Benennungen verschiedener Formen der Ehe und Lebensgemeinschaften haben sich vervielfacht. Die "Fortsetzungsehe" ist monogam "auf Raten", einer aufgelösten Ehe folgt die nächste eheliche Bindung. In der "sexuell nichtexklusiven Paargemeinschaft" unterhält mindestens ein Partner sexuelle Kontakte zu einer Person außerhalb der Partnerschaft. In der "Commuter-Ehe" halten sich die Partner, beruflich bedingt, an getrennten Wohnorten auf, in der "Hausmänner-Ehe" fungiert nur die Frau als Erwerbstätige, "binukleare Familien" setzen sich aus zwei Haushalten zusammen, wobei das Kind mal in dem einen, mal in dem anderen Haushalt lebt. Bei "multipler Elternschaft" haben Kinder mehrere (biologische und soziale) Mütter und Väter, verschiedene Arten von Geschwistern, Großeltern, Onkel und Tanten. In "heterologen Inseminationsfamilien" ist aufgrund künstlicher Befruchtung einer Eizelle mit der Samenzelle eines fremden Spenders die Einheit von biologischer und sozialer Elternschaft durchbrochen. - Das ist nur ein Teil des expandierenden Begriffslexikons gegenwärtiger Familiensoziologie. Das Vokabular indiziert nicht nur differenziertere Sichtweisen, sondern spiegelt die Pluralisierung konkurrierender Formen des (quasi)familiären Zusammenlebens.

Den gegenwärtig populärsten Ansatz zur Erklärung dieses Phänomens lieferte die Individualisierungsthese des Soziologen Ulrich Beck. Sie versteht den Übergang in die Moderne als Prozess der Loslösung aus traditionalen Bindungen, der sich in den letzten Jahrzehnten noch einmal erheblich beschleunigt hat. Die Theorie der sozialen Differenzierung hingegen, so Peuckert, "betrachtet den familialen Wandel als Ausdifferenzierung von Privatheit. Neben die bürgerliche Kleinfamilie als einem 'kindorientierten' Privatheitstyp sind ein 'partnerorientierter' und ein 'individualistischer' Privatheitstyp getreten, die besser mit den Anforderungen der komplexer geworden Umwelt, vor allem den Anforderungen des Arbeitsmarktes, fertig werden als die weniger spezialisierte, auf Dauer angelegte, geschlechtsspezifisch strukturierte Kleinfamilie."

Das Vokabular und die Argumentationsmuster solcher Theorien haben sich mittlerweile auch die (literatur)historischen Forschungen zum Thema Familie angeeignet. Eine literaturwissenschaftliche Dissertation von Manuel Braun erprobt nach langen theoretischen Vorüberlegungen neben dem Instrumentarium der Diskursanalyse das der Systemtheorie an Prosaromanen der frühen Neuzeit. Daraus ist ein grundlegendes Buch über das Verhältnis von Ehe und passionierter Liebe in den moraltheologischen und literarischen Diskursen des 16. Jahrhunderts entstanden. Den seinerzeit ungemein populären Roman "Fortunatus", die Geschichte eines verarmten Bürgers, den ein wundersames "Glückssäckel" aus der materiellen Not befreit, doch nicht schon aus der sozialen Isolation, liest Braun als Dokument der sich schon um 1500 abzeichnenden funktionalen Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Systems in relativ eigenständige Teilsysteme. Die damit einhergehende Freisetzung des individualisierten Subjekts aus alten sozialen Bindungen geht mit diffusen Ängsten und Isolationserfahrungen einher. Der daraus resultierende Bedarf nach neuen Formen der Vergesellschaftung bringt eine Konjunktur der Diskurse über Ehe, Liebe und Freundschaft hervor. Braun analysiert sie in der Gegenüberstellung von moraltheologischen Schriften, die eine strikte Unterscheidung von ehelicher und passionierter Liebe vornehmen, und Prosaromanen vor allem Georg Wickrams, die den moraltheologischen Diskurs zum Teil adaptieren, doch gleichzeitig auch in Ansätzen immer wieder unterlaufen. Ehemoral und Liebesgeschichten hindern sich hier gegenseitig an ihrer Entfaltung. Der "Kommunikationscode" passionierter Liebe, der regelt, wie man Gefühle verbal oder nonverbal ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen oder auch leugnen kann, entwickelt sich nach Braun nicht erst, wie Niklas Luhmanns Schrift "Liebe als Passion" suggerierte, ab der Mitte des 17., sondern schon im 16. Jahrhundert, in dem der Prosaroman die Liebe zunehmend versprachlicht. Vieles von dem, was die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung in Sachen Ehe, Liebe und Freundschaft bislang als Innovationen des 18. Jahrhunderts angesehen hat, findet Braun schon zwei Jahrhunderte vorher. Sich in den Forschungen zur Frühen Neuzeit von den Perspektiven Luhmans oder Roland Barthes anregen zu lassen erweist sich, wie diese Buch zeigt, als ein vielfach erhellendes Unterfangen, das manche etablierten Sichtweisen auf überraschende Weise ins Wanken bringt.

Auf Luhmann greifen mit Gewinn auch die Untersuchungen in Ingrid Spörks Dissertation "Liebe und Verfall. Familiengeschichten und Liebesdiskurs in Realismus und Spätrealismus" zurück. Dominanter sind hier jedoch psychoanalytische Perspektiven. Sie rechtfertigen sich in diesem Fall auch dadurch, dass die untersuchten Texte im zeitlichen Vor- oder Umfeld von Freud entstanden sind. Der gängigen Praxis österreichischer Germanistik folgend, beschränkt sich die Untersuchung auf österreichische Autorinnen und Autoren des Realismus: Ada Christen, Jakob Julius David, Marie von Ebner-Eschenbach, Karl Emil und Ottilie Franzos, Ferdinand Kürnberger, Ferdinand von Saar, Leopold und Wanda Sacher-Masoch. Die von ihnen erzählten Familiengeschichten sind zu weiten Teilen Kindheitsgeschichten. Die untersuchten "Liebesdiskurse" beziehen sich vornehmlich auf die emotionalen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Nicht zuletzt darin entsprechen sie dominanten Interessen der Psychoanalyse. Die bürgerliche Ehe- und Familienmoral lassen sie weithin unangetastet, doch der meist resignative Ton und unglückliche Ausgang der Familiengeschichten verweist indirekt darauf, wie wenig sie noch dazu geeignet ist, die dargestellten Konflikte zu lösen. "Oh, diese Familienmiseren!", ruft ein Arzt in Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung "Die Reisegefährten" aus und entspricht damit der Sicht des Textes. Ingrid Spörks Anleihen bei der Psychoanalyse lassen sich nicht dazu verleiten, unhistorisch mit Literatur umzugehen. Schon der instruktive Überblick zur Geschichte der Familie und der an sie gebundenen Emotionen zu Beginn des Buches demonstriert das. Doch hätte es nahe gelegen, die psychoanalytischen Theorien selbst als historische Antwort auf eine Phase der Familiengeschichte zu beschreiben, als eine Art therapeutisches Krisenmanagement angesichts einer Institution, deren pathogene Strukturen von der Literatur sensibel wahrgenommen und aufgezeichnet werden.

Psychoanalyse wie Literatur bleiben zusammen mit ihren Adressaten das ganze 20. Jahrhundert lang mit der Verarbeitung von Familienkrisen bestens beschäftigt. Wie stark das 20. Jahrhundert darin den Problemkonstellationen des 18. verhaftet ist, zeigen, was die Literatur betrifft, die Untersuchungen von Ursula Hassel. Methodisch und theoretisch nicht sonderlich avanciert, doch philologisch grundsolide vergleicht die Bonner Dissertation die Inszenierungen des familialen Geschehens in den kritischen Volksstücken von Horvath, Franz Xaver Krötz, Felix Mitterer und Kerstin Sprecht mit denen im bürgerlichen Trauerspiel und im Wiener Volkstheater. Bei allen Wandlungen und Divergenzen, so kann Hassel überzeugend belegen, sind die Kontinuitäten doch erheblich. Das "Familiendrama" ist auch in der Gegenwart nicht an sein Ende gekommen, weder in der Realität noch in der Literatur. Und auch da, wo Autoren wie Krötz die Pathologie familiärer Beziehungen in ihren mörderischen Konsequenzen in Szene setzt, kann Hassel zeigen, dass diese Autoren "die Institution Familie als funktionierende Sozialform nicht grundsätzlich in Frage stellen." Mit geradezu heroischem Gestus bekannte Krötz: "Ich bin ein Familienschreiber. In all meinen Stücken gehe ich von der Familie aus, beschütze immer die Einheit Familie (Ausnahme: Mensch Meier). Ich will, daß die Familie hält."

Bei der Beobachtung psychoanalytischer Theorie und Praxis, wo die Familientherapie längst einen zentralen Platz eingenommen hat, kann man einen ähnlichen Eindruck gewinnen. Was sich da in zahllosen Einzelfällen als Keimzelle neurotischer Störungen immer neu bewahrheitet, bleibt doch als Institution unangefochten. In einem der vielen glänzenden Essays, die das Kursbuch 144 dem Thema "Liebesordnungen" widmet, verweist Ina Hartwig auf den Konservativismus der Psychoanalyse in Familienangelegenheiten. Sie kritisiert ihn jedoch nicht, sondern gewinnt ihm einige Sympathie ab. Auch der Ehe Freuds. "Eine Liebe fürs Leben - oder sagen wir lieber: die Ehe -, sie war für Freud eine Notwendigkeit. Sie bot ihm die beste Plattform, um das eigentliche geistige Abenteuer ungestört fortzusetzen: den (angeblichen) Triebverzicht in der Arbeit."

Der Essay ist eine Absage an alle unsere "schönen revolutionären Sexualtheorien" und eine Hymne auf die "Liebe fürs Leben" - eine Hymne freilich ohne große Illusionen: "Und wer seine Liebe fürs Leben nicht findet, sucht weiter danach, sucht sie in der Promiskuität - und findet sie nicht, sucht sie auf der Straße - und findet sie nicht, sucht sie auf Reisen, unter Kollegen, sucht überall - und findet sie nicht. Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht er noch heute."

Anmerkung: Einige Passagen dieses Beitrags, die sich nicht auf die angegebenen Neuerscheinungen beziehen, sind wörtlich übernommen aus Christine Kanz / Thomas Anz: Familie und Geschlechterrollen in der neueren deutschen Literaturgeschichte. Fragestellungen, Forschungsergebnisse und Untersuchungsperspektiven (Teil I). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32, 2000, H. 1, S. 19-44.


Titelbild

Jörg Villwock: Die Familie.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 1999.
329 Seiten, 84,60 EUR.
ISBN-10: 3860647695

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Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel.
Verlag Leske und Budrich, Leverkusen 1999.
350 Seiten, 13,70 EUR.
ISBN-10: 3810025771

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Bettina Recker: "Ewige Dauer" oder "Ewiges Einerlei". Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
234 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826018486

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Ingrid Spörk: Liebe und Verfall. Familiengeschichten und Liebesdiskurse im Realismus und Spätrealismus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
271 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826014901

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Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2001.
390 Seiten, 69,50 EUR.
ISBN-10: 3484365609

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Kursbuch Liebesordnungen. Nr. 144.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
172 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3871341444

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Ursula Hassel: Familie als Drama. Studien zu einer Thematik im bürgerlichen Trauerspiel, Wiener Volkstheater und kritischen Volksstück.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002.
403 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-10: 3895283142

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