Spät erst erfahren Sie sich

Judith Hermann findet "Nichts als Gespenster"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vom Verlag erbetene Sperrfrist haben fast alle Feuilleton-Redaktionen gebrochen, um Judith Hermanns neuen Erzählband, ihr zweites Werk nach dem vielgepriesenen "Sommerhaus, später", früher zu rezensieren. Der Bestenliste der Süddeutschen Zeitung, die Hermanns Buch schon jetzt anführt, wirft man gleichwohl "vorauseilenden Gehorsam" vor. Dies ist nur eine der Hypokrisien der kommerziellen Literaturkritik und symptomatisch für den widersprüchlichen Umgang mit der sicherlich meistversprechenden Vertreterin der sogenannten "Fräuleinwunder"-Generation, der inzwischen 32-jährigen Hermann. Auf ihr laste ein enormer Erwartungsdruck, konzediert die Kritik, und trägt wenig dazu bei, ihn ihr zu nehmen. Alle sind sie enttäuscht, mehr oder weniger, und einstmals Liebende seufzen jetzt ernüchtert: "Du bist nicht [...], wofür ich dich gehalten habe."

Argumente bekommen in diesem Zusammenhang etwas Sekundäres, wirken wie nachträgliche Rationalisierungen von Urteilen anderen als literarästhetischen Ursprungs: Nicht allein, dass die, nun ja, junge Garde der Literaturkritiker (Hartwig, Spiegel, Radisch, Steinfeld) sich auf Forderungen einer etwas altbackenen Handlungspoetik besinnt (eigentlich das Ressort Reich-Ranickis), um zu beklagen, dass in Hermanns Erzählungen ja gar nichts passiere. Auch Erfahrungsarmut und Blutleere werden moniert und an einem faktualistisch-empiristischen Erlebnisbegriff gemessen, der dem Realismus des 19. Jahrhunderts geschuldet ist, nach dem Motto, schreibe nicht über ein Bergwerk, wenn du nicht lange unter Tage warst.

Der Vorwurf gilt, so hat man den Eindruck, nicht allein den Figuren, fast allesamt Ich-Erzählerinnen der eigenen Geschichte, sondern auch der Autorin. Einerseits mokiert man sich nicht ohne Selbstironie über die implizite Forderung, Hermann hätte die fünf Jahre nach ihrem Erstlingserfolg nutzen sollen, den von ihr erwarteten Roman zu schreiben; andererseits lässt man einfließen, die Autorin habe (statt dessen) den Sohn Franz bekommen, dem der neue Band gewidmet sei. Das erfahren wir von Ina Hartwig. Der neokonservative Elternschaftskitsch, der als Pointe die ansonsten nicht schlechte Titelerzählung "Nichts als Gespenster" ruiniert, wäre damit biographisch gestützt: "Du bist da, weil Buddy in Austin, Nevada, zu uns gesagt hat, wir wüßten nicht, wie es ist, für ein Kind Turnschuhe zu kaufen, ein Paar perfekter, winziger Turnschuhe in einem vollkommenen, kleinen Schuhkarton. Er hatte recht, ich wußte es nicht und wollte wissen, wie das ist. Ich wollte es wirklich wissen".

Anders als bei Durs Grünbein und weiland Peter Handke, deren Vaterschaftstaumel auch ihre Egomanie reproduzierte und die Ressentiments den Autoren gegenüber bestätigte, berührt die Verquickung von Autor(innen)- und Mutterschaft immer noch seltsam, zumal wenn eine durchaus nicht im Ruch des Anti-Emanzipatorischen stehende Kritikerin dazu einlädt, sie herzustellen.

Wo bleibt bei soviel Paratext der Text, möchte man fragen. Und wie funktioniert die eigentümliche 'Ja-aber-Kritik' etablierter Rezensenten jenseits der 40?

Das Buch: Es enthält sieben Erzählungen, in denen Figuren, alle ausschließlich durch ihre Vornamen bezeichnet, miteinander eher belanglos reden, schlecht essen, häufiger trinken und fast immer rauchen. Dies tun sie an unterschiedlichen Orten der Welt, (Berlin, Prag, Venedig, Karlsbad, Nevada, Reykjavík, Tromsø) deren Lokalkolorit, von Aura wagt man nach der Lektüre nicht mehr zu sprechen, niemanden wirklich interessiert oder gar berührt. "Meinen Sie Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt", bezweifelte schließlich schon Benn, das Ortswechsel der (Selbst-)Erfahrung dienlich sind: "Spät erst erfahren Sie sich".

Erfahrung, um die es bei Hermann gleichwohl geht, meint innere Berührung. Sie entsteht durch die unerwartete momenthafte Nähe zu einem Fremden. Mit ihm teilen die durchweg weiblichen Hauptfiguren die Intensität einer Stimmung, die Folgenlosigkeit eines Ereignisses oder das wechselseitige Einander-Gewahrwerden und nur im für das Buch einmaligen Ausnahmefall einen One-night-stand. Doch klingt selbst dieser Topos des Fast-food-Sex geradezu obszön lustvoll gemessen an der Lust- und Körperlosigkeit des Dargestellten und des Darstellens. Und damit wäre man bei den Absenzlisten, mit denen die Kritik arbeitet, um das Buch ex negativo greifbar zu machen. Sie lassen sich in extenso weiterschreiben.

Was fehlt: Geschichte und Politik, Berufsleben und Arbeitswelt, Agenten der Sozialisation, Autoritäten, Vorgesetzte, überhaupt "Erwachsene", die als Repräsentanten irgendeines Systems, Gesetzes oder einer anderen abstrakten Ordnung fungieren (die Eltern der Erzählerin von "Aqua Alta" erscheinen in ihrer Begeisterungsfähigkeit für Venedig provinziell, in ihrer kleinbürgerlichen Sparsamkeit und ihrem uncoolen Bemühen um Geschäfts- und Lebenstüchtigkeit nur rührend - ein wenig peinliche Relikte einer Welt, in der man mit dem Portier um den Zimmerpreis feilscht). Solche Zeiten sind vorbei und unerreichbar fern. Denn im Universum der Hermann-Figuren fehlen Geld als Konkretum, Detailrealismus, wenn er nicht schick ist; Kunst, Musik, Literatur, Theater, Kino, wenn sie nicht biographisch kommensurabel gemacht sind; Katastrophen, Krankheiten, Krisen, Anstrengungen, Exzesse und Leidenschaften. Statt dessen nur Privates: "In diesem Winter, in dem ich beschloß, mit Peter über Silvester nach Prag zu fahren, liebte Micha Sarah. Sarah liebte Micha, und Miroslav, der Sarah liebte, lebte allein in Prag und hatte die Jalousien vor allen seinen Fenstern immerzu heruntergelassen." Was sich so ehrlich unpolitisch gibt, ist bewußt nicht political correct, aber letztlich nur anders unaufrichtig und immer ästhetisch-korrekt. Das Ver- und Entlieben ist still, unspektakulär, im üblichen Sinne folgenlos und stiftet kaum je einen Einklang von äußerer und innerer Biographie. So wie behauptet wird, erst wenn man per Weltempfänger in Karlsbad mongolische Musik höre, begreife man, dass man in Tschechien sei, und Prag sei nirgendwo so präsent sei wie zwischen den Garküchen-Buden des dortigen Vietnamesenmarktes - so sind auch die richtigen Männer immer die abwesenden, die Lebensgefährten und Kindsväter nicht im emphatischen Sinne die Geliebten, sondern eher zufällig anwesend; so suchen die Figuren alle den Augenblick einer Entrückung, die das Vertraute fremd, das Unbekannte nah erscheinen läßt und als Unvereinbarkeit beider den süßen Schmerz einer Nicht-Identität gewährt.

Der Eindruck relativer Ortlosigkeit hat deshalb Methode. Hermann wirkt mit den Milieus, von denen sie erzählt, vertraut, nur sind es eben nicht sonderlich viele, eigentlich nur ein einziges Biotop gelassener Selbstbezüglichkeit, das die thirtysomethings als portatives Vaterland überall hin mitnehmen: ",Es ist nicht ungewöhnlich', sagte Ellen. 'Viele Leute leben so. Sie reisen und sehen die Welt an, und dann kommen sie zurück und arbeiten, und wenn sie genug Geld verdient haben, fahren sie wieder los, woanders hin. Die meisten. Die meisten Leute leben so.'"

Die meisten wohl eher nicht. Nein, die meisten leben ganz sicher nicht so, und wahrscheinlich sind unter den Judith-Hermann-Lesern diejenigen, die so nicht leben (können), zugleich die, die am liebsten über das Leben in fremden Wohnungen, das Essen aus fremden Kühlschränken und das Liegen und Rauchen auf fremden Betten lesen - um enttäuscht zu werden (im Ungenügen am Eigenen) und bestätigt zu sein (in dessen Ubiquität). Denn "die meisten" führen das Leben ihrer Elterngeneration fort, allenfalls im Ästhetischen modifiziert, mit einer Einbauküche von Ikea und Zeitvertrag statt Lebensstellung. Viele aber, so muss man mutmaßen, fürchten, mit ihrer konventionellen, überschaubaren, wenig spontanen Lebensweise allein zu sein und dass die meisten es eben doch anders machen. Besser.

Nicht zuletzt aus dieser Wunsch-und-Schreckens-Projektion der Provinzler erklärt sich der Berlin-Hype der letzten Jahre:

"Sie erzählte von Berlin und von dem Leben in Berlin, sie versuchte, es zu beschreiben, die Tage und Nächte, ihr kam alles etwas verwirrend vor, durcheinander und ziellos, 'Wir machen dies und wir machen jenes', sie hatte das Gefühl, es nicht richtig beschreiben zu können. Geld verdienen, mal so und mal so. Nächtelang in sich überschlagender Euphorie unterwegs sein und dann wieder Abende, an denen sie um zehn ins Bett gingen, müde, erledigt, hoffnungslos. Ein Freundeskreis. Eine Art von Familie.'"

Da mag man neidisch werden. Indes vermittelt die ereignislose Trostlosigkeit der Weitreisenden mit leichtem Gepäck etwas auch Beruhigendes. Was in einer blauen Stunde irgendwo in Island unter einem im Schnee liegengebliebenen Auto mit einem flüchtig Bekannten zu teilen ist, das kann einen auch mit dem Reihenhausnachbarn in Wanne-Eickel verbinden.

Das Credo dieser Erzählungen und ihrer Figuren ist: der Moment. Der Moment der Schönheit, eines stillen Glücks, häufiger einer leisen stumpfen Melancholie, der Moment der Intimität mit einem Fremden. Seine zentrale Metapher ist die Zigarette: Wer raucht, schafft sich, gleichgültig wo, wann und mit wem, eine Zigarettenlänge lang einen eigenen, privaten Ort, eine Stimmung außerhalb der Zeit, geborgen im Habitus und ausgesetzt den Umständen, eine selbstgenügsame Enklave.

In ihren besten Momenten sind die Erzählungen Judith Hermanns so: Sie vertreiben den Hunger, ohne satt zu machen, und sie rufen etwas wach, das zerstoben ist, bevor das Bewußtsein es heben kann, sie führen den Lesenden weit fort, indem sie ihn ganz bei sich sein lassen. Inhalationsprosa. Light. Wohl dennoch nichts für Nichtraucher.

Titelbild

Judith Hermann: Nichts als Gespenster.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 310033180X

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