Sein oder Nichts - alles Jacke wie Hose

Ein Glücksfall des Lebens und des Lesens: Ludger Lütkehaus vollendet den Nihilismus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siebenhundertsechsundsechzig Seiten hat Ludger Lütkehaus, der Herausgeber der Werke Schopenhauers nach den Ausgaben letzter Hand, "Nichts" gewidmet. Um es gleich vorwegzunehmen: Einem solchen Buch zu begegnen zählt zu den raren Glücksfällen des Lebens! Scharfsinnig, geistreich und mit köstlich funkelndem Sprachwitz rückt der Autor dem Nichts auf den Leib. Mag sein, daß der Weise dem Nichts ruhigen Sinnes entgegensieht. Der Leser dieses Buches tut es gelegentlich mit lautem Lachen. Ein Lesegenuß ersten Ranges. Und dabei versteht es der Autor, die Untiefen der Banalisierung einer so tiefsinnigen Frage wie der um Sein und Nichts elegant zu umschiffen.

Angesichts der vielen Vorzüge sieht man es dem Buch nach, daß es mit dem Untertitel das "Ende der Angst" verspricht. Da weiß man vorab schon, daß dies nicht eingelöst werden kann. Und so ist von Angst in dem Buch auch kaum die Rede. Bei allem, was dem Rezensenten hier und da noch zu monieren bleibt, handelt es sich um Kleinigkeiten, wie sie dem Nichts zukommen.

Im Mittelpunkt des opus eximium steht die durchaus nicht nichtige Frage, ob "das Sein etwas Gutes" sei, das Nichtsein hingegen etwas "prinzipiell Schlechteres, wenn nicht der Inbegriff des Schlechten." Sie wird in der einleitenden Übersicht, und auch sonst gelegentlich, mit der Frage nach dem "'Sinn des Daseins', dieser knappsten aller Ressourcen" vermischt, als ob Wert und Unwert des Seins und des Nichts von irgend einem Sinn abhingen. Daß das Dasein sinnlos und absurd ist, läßt sich zwar kaum bestreiten, ist aber letztlich belanglos. Von Bedeutung für die Frage, ob dem Sein das Nichts vorzuziehen ist oder umgekehrt, ist allein, daß das Sein Leiden kennt. Mehr noch, würde das Dasein, und also das Leiden, Sinn machen, so würde das die Leidenden - zu allen anderen Übeln - auch noch zu bloßen Mittel für ihnen fremde Zwecke degradieren. Es sei denn, man wollte sich die abstruse Annahme zueigen machen, zu leiden selbst sei für die Leidenden der Sinn.

Aber solche Abwege, wie die Frage nach dem Sinn, verläßt der Autor schnell wieder, wenn er sich seiner zentralen These im Streit um den Vorrang des Seins vor dem Nichts nähert. Mit dem Nihilisten - nicht Pessimisten! - Schopenhauer behauptet er, daß ein einziges Leiden "angesichts der Gegenmöglichkeit eines völlig leidfreien, um kein Sein und schon gar kein gutes Sein betrogenen Nichts über die verfehlte Schöpfung" entscheidet. Nun muß man mit Lütkehaus keineswegs darin übereinstimmen, daß das Nichts tatsächlich eine Gegenmöglichkeit, eine reale Gegenmöglichkeit, zum Sein ist. Man kann sogar aus guten Gründen der Auffassung sein, daß es sich um nichts weiter handelt als eine gedankliche Konstruktion, der möglicherweise schon analog der kantischen Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises der Garaus gemacht werden kann. Aber dennoch ist angesichts des geringsten Leidens bereits der Stab über das Sein gebrochen. Man darf nämlich als einsichtiger Mensch, als vollendeter Nihilist, nicht von neuem in die "Falle einer - wenn auch nur relativen - Positivierung des Nichts" gehen, sagt Lütkehaus ganz richtig. Es reiche vielmehr vollends hin, daß "das Sein keinerlei Vorrang vor dem Nichts haben kann, wenn dieses ist, was es allein ist: nichts - und also nicht ist." So simpel und so evident ist das, wenn es erst einmal jemand ausgesprochen hat. Doch begnügt sich Lütkehaus nicht mit dieser fundamentalen Einsicht, sondern weiß auch noch zu einer ganzen Reihe weiterer Fragen erhellendes zu sagen. Etwa wenn er sich der Rede vom 'Geschenk des Lebens' zuwendet, einem Topos von geradezu Orwellscher Prägung. Mit dem Vorurteil, daß Kinder von ihren Eltern 'das Leben geschenkt' bekämen und ihnen daher Dank schuldeten, räumt er gründlich auf. Wie schon Kant ist auch Lütkehaus der Auffassung, daß vielmehr das Gegenteil zutrifft. Die Eltern sind es nämlich, die sich durch das "Diktat der Geburt" zu Schuldnern ihrer Kinder machen. Ein Diktat darum, weil man das Geboren-worden-Sein nicht zurückweisen kann, wie es ja bei einem Geschenk immerhin der Fall wäre. Allein die Möglichkeit des Suizids, die "Freiheit zum Tode [...] balanciert das Diktat der Geburt". Zwar kann damit die Entscheidung der Schöpfer widerrufen, nicht jedoch ungeschehen oder in irgend einem Sinne wieder gut gemacht werden. Wer erst einmal geboren ist, für den ist das Glück des Nicht-Seins ein für alle mal perdu.

Die Kritik der Theodizee, so Lütkehaus, radikalisiert sich hiermit zur Kritik der Biodizee. Jeder Schöpfer und jede Schöpferin, alle Väter und alle Mütter - und natürlich sämtliche Gentechniker - müssen sich nun die Frage stellen lassen, wie sie zu rechtfertigen gedenken, ihren Geschöpfen ein Leben aufzuzwingen, das "selbst im besten Fall, unter der Voraussetzung eines vollständig glücklichen Daseins, keinen Vorrang vor dem Nichtsein haben kann." Auf die Antworten dürfte man gespannt sein! Zumal den Ungeborenen ja das Leben nicht vorenthalten wird. Denn es gibt niemanden, dem etwas vorenthalten werden könnte. Für sie, die nicht sind, kann "der Mangel an Seinserfahrung keine Erfahrung eines Seinsmangels" sein. Von den Überlegungen zu der nach Lütkehaus notwendig mißlingenden Biodizee ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der sich so überaus radikal gerierenden Frage, ob denn überhaupt eine Menschheit sein solle. Deren positive Beantwortung läuft auf das "unbedingten Gebot, miteinander ins Bett zu gehen", hinaus, "natürlich hochverantwortlich". Selbstverständlich hat Lütkehaus Recht: Liebende werden "kein Fragezeichen hinter die Fortsetzung der Seins als Schöpfungsgeschichte setzen wollen". Liebende sind eben stets der folie à deux verfallen. Zu den wirklich radikalen Fragen dringt hier allerdings auch Lütkehaus nicht vor, beispielsweise zu der, ob eine Menschheit sein muß, ja sein darf! Aber abgesehen davon, geht es ja im Grunde nicht nur um die Menschheit, sondern um nicht weniger als das Sein als ganzes und das Nichts überhaupt. Die Menschheit fällt da vielleicht gar nicht so sehr ins Gewicht. Auch daß, wie Lütkehaus nahelegt, die Möglichkeit eines Atomkrieges auf die philosophische Frage nach dem Nichts eine praktische Antwort geben könne, ist nicht so recht nachzuvollziehen. Schon unsere nächsten Nachbarn dürften kaum mehr als ein momentanes Aufflackern eines neuen Sterns am Firmament bemerken.

Nach der hundertzwanzig Seiten umfassenden "Übersicht" wendet sich der Autor im ersten Hauptteil der Philosophiegeschichte des neuzeitlichen Nihilismus zu. Dabei gerät durch die historische Beschränkung die Affinität des von ihm vertretenen "vollendeten Nihilismus" zur antiken Stoa nicht in den Blick. Für beide waren Sein und Nichts "Jacke wie Hose". Natürlich wendet sich der Schopenhauer-Kenner hier insbesondere dem "verzweifelten 'Kampf ums Dasein'" zwischen dem Willensverneiner und seinem Schüler und Widersacher Nietzsche zu. Schopenhauer, so Lütkehaus' zutreffendes Urteil, ist von beiden nicht nur der schärfere, sondern auch der radikalere Denker. "Wie rücksichtslos vollzieht er tatsächlich die 'Umwertung aller Werte"', für die Nietzsche zwar "'jenseits von Gut und Böse'", nicht jedoch "diesseits von Sein und Nichtsein" geworben hat. Letztlich bleibt von Nietzsches Philosophie nichts weiter als ein "im Kern mißlingender Versuch einer Biodizee angesichts des Nihilismus". Das ist so lapidar wie treffend formuliert. Doch nicht nur ihnen und anderen kanonisierten Denkern gilt das Interesse des Autors, sondern ebenso Philosophen der zweiten Reihe: zum Beispiel dem "Meister der Kompromißbildung" und Modephilosophen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts Eduard von Hartmann und seiner Hamlet-Version "To be for not to be"; oder Philipp Mainländer und seiner "Geburt der Philosophie aus einer Neurose", dem er bescheinigt, der eigentliche Entdecker des Todestriebes zu sein, dem Grundtrieb, den Freud domestizierte, indem die "'lebensfromme' Psychoanalyse" ihm das "Lustprinzip beigesellte". Selbst einem Mann wie Julius Bahnsen wird von Lütkehaus ein eigenes kleines Kapitel gegönnt, einem sogar von Pessimisten und Nihilisten völlig zu Unrecht vergessenen Denker, der die "Vernichtung der Welt" ebenso ausschloß wie ihre "Heilung".

In der Sichtung der Nihilismushistorie, die den größten Teil des Buches ausmacht, brilliert Lütkehaus mit seinen profunden Kenntnissen und, was in der Zunft der Philosophen eher selten ist, mit Witz, Esprit und geistreicher Metaphorik. Köstlich ist beispielsweise seine fein ausgesponnene Ehemetaphorik für Hartmanns Vermählung der weiblich listigen Idee mit dem kraftvoll-tumben männlichen Willen. Und mit pointierten Formulierungen polemisiert er gegen Adornos "Totalverdikt gegen jegliches Totalverdikt" und bringt Sartres erotische Paar-Metapher (Sein und Nichts) und dessen Geschlechtsphilosophie auf ihren misogynen Punkt: "Die Frau als Loch und Nichts ist geil aufs Sein. [...] Sonst ist sie nichts, nur Loch".

Der zweite Hauptteil gilt der Überschrift gemäß der Erörterung der "Nichtsvergessenheit". Das wirklich Interessante aber ist hier die Erörterung des Nichts selbst. Die "Nichtsvergessenheit" zu überwinden und das Nichts zu thematisieren, darin sieht der Autor die eigentliche Aufgabe gegenwärtigen Philosophierens. Hat nämlich die moderne Erkenntniskritik inklusive der "poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Postmoderne 'das Andere' von den Projektionsformen des 'Eigenen' zu befreien versucht, so ist das am meisten und dort vonnöten, wo es um das Sein und das Nichts geht." Handelt es sich beim Nichts doch um nichts Geringeres als das "'Andere' par excellence". Wie es denn aber als "Negation ohne Negativität für ein Negiertes", also gerade nicht als Negation des Seins als des Eigentlichen, überhaupt ein Anderes (von was?) sein kann, bleibt offen.

Anders als alle anderen vor ihm will der Autor den Nihilismus nicht nur neu interpretieren, sondern ihn vollenden. Der vollendete Nihilist Lütkehaus entwertet nicht nur wie der herkömmliche Nihilist das Sein, sondern gesteht ebenso dem Nichts keinerlei Wert zu. "Für einen wirklich vollendeten Nihilismus gibt es keinen Wert," heißt es. Er ist "gleichgültig gegenüber Sein und Nichts." Andererseits aber stelle das Nichts doch "für die noch Leidenden und Lebenden" die "Erlösung" dar. Und hier schleicht sich trotz aller Mühen und guten Absichten auch bei Lütkehaus die altbekannte nihilistische Positivierung des Nichts ein. Natürlich ist auch die von ihm vertretene Variante nicht haltbar. Denn das Erlösungsversprechen des Hoffnungsträgers Nichts täuscht notwendigerweise. Ist man erst mal ins Dasein getreten und ist Hoffnung so überhaupt erst möglich, ist bereits alles zu spät und alles Hoffen vergebens. Denn das Nichts geht die Leidenden und Lebenden nichts an, so könnte man Lütkehaus, Epikur paraphrasierend, entgegnen. Solange die Lebenden und Leidenden sind, ist das Nichts nicht. Und wenn das Nichts ist, sind die Leidenden und Lebenden nicht. Kurz: Da das Nichts nichts ist und sonst nichts, hat es auch nichts zu bieten, weder Hoffnung noch Trost, noch sonst irgend etwas. So unliebsam uns das Sein auch sein mag, so ist es doch alles, was uns bleibt und zwar für immer, daß heißt so lange wir sind. Nichts bleibt als Trostlosigkeit enttäuschter Hoffnungen und vergeblichen Wünschens. Denn würde Nichts, so wäre nichts gewonnen.

Und gegen den Umstand, daß nun mal nicht Nichts ist, sondern das Sein, so wie wir es kennen, ist auch das Buch machtlos. Anlasten kann man ihm das selbstverständlich nicht. Ebensowenig, daß es darüber schweigt, was denn nun angesichts dieser so mißlichen wie unabänderlichen Lage zu tun sei. Denn das ist nicht sein Thema.

Titelbild

Ludger Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst. Ein endzeitlicher Essay.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Zürich 1999.
768 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3251004468

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