Es ist überall nichts Gescheites dran

Der Nihilismus führt sich selbst ad absurdum

Von Reinhard BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Brandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sechs Kapiteln durchstreift Vercellone den Nihilismus. "Von der Romantik zur Krise des Idealismus" beginnt mit der üblichen Nihilismus-Ouvertüre, der Polemik Jacobis gegen Fichte, behandelt romantische Autoren und gelangt dann zu Heine, Büchner und Stirner. "Der russische Nihilismus zwischen Populismus und Tragödie" stellt Dostojewskij, Turgenjew und den politischen Nihilismus der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vor. "Nietzsche und der Nihilismus" bringt die frühen Quellen der eigentlich erst später formulierten nihilistischen Machtsprüche. "Nihilismus und die zeitgenössische Philosophie" resümiert die nihilistischen Tendenzen der französischen, deutschen und italienischen Szene im 20. Jahrhundert. "Nihilismus, Säkularisierung, Theologie" verfolgt die Theologie-Debatte vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart; als letztes Kapitel folgt "Nihilismus, Ästhetik, künstlerische Avantgarde". Eine umsichtige Bibliographie schließt die kenntnisreiche Sammlung ab.

Der Autor hätte gleich zu Beginn sagen sollen, daß es "den" Nihilismus nicht gibt; man kann deswegen so wenig in "den" Nihilismus einführen wie in "die" Dialektik. Es gibt den Gebrauch des Wortes "Nihilismus" und es gibt Überlegungen, die unabhängig vom Wortgebrauch auf das zielen, wofür einige Autoren das Wort benutzt haben. Zum Wort: Es kommt nicht erst bei Jacobi vor, sondern wird schon 1733 benutzt von Fridrich Lebrecht Goetz in seinem theologisch-literarischen Traktat über den "Neinismus" und Nihilismus: "De nonismo et nihilismo in theologia [...] tractatus theologico-litterarius". Hier wird Demokrit als Nihilist geführt, und mit dieser Zuordnung stimmt eine zuerst bei Lukian belegbare literarische Tradition gut überein; ihr entspricht das Demokrit-Motiv auf Bildern. In Lukians Dialog "Ausverkauf der Philosophen" lautet ein Dialogstück (in Wielands Übersetzung): "Großer Iupiter! welch ein Contrast! der eine [Demokrit] lacht ohne Aufhören, und dem andern [Heraklit] muß etwas sehr liebes gestorben seyn, denn er weint an Einem Stücke. - Hey da, guter Freund, worüber lachst du so? Demokritus: Du kannst noch fragen? Weil ich alle eure Dinge und euch selbst lächerlich finde. Käufer: Wie? du lachst uns alle aus, und siehest alle menschlichen Dinge für nichts bedeutend an? Demokritus: So ists; es ist überall nichts gescheidtes daran, alles ist ungefehrer Atomentanz im unendlichen Leeren." Die Vorstellung, daß das Universum nichts ist als ein "Atomentanz in der unendlichen Leere", führt notwendig zu dem Schluß, daß alle menschliche Zwecksetzung nichtig und illusionär ist, ein Narrenspiel, über das der Philosoph nur lachen kann. Der Unterredner Lukians zieht jedoch einen weiteren Schluß: Auch der Philosoph gehört zum Ganzen, er ist notwendig hohl wie seine Welt und vernunftlos. Der Atomismus (nach Goetz: Nihilismus) führt sich selbst ad absurdum.

Mit Jean Paul und verwandten Autoren gibt es in der Nachfolge der Fichte-Kritik von Jacobi das Phänomen eines neuartigen Nihilismus, der die nichtantike Bewußtseinsphilosophie voraussetzt. Die Schrift von Friedrich Schlegel, "Über das Studium der griechischen Poesie" gehört jedoch kaum dazu, wie Vercellone meint, denn sie gebraucht den Begriff nicht und endet keineswegs pessimistisch oder nihilistisch, sondern mit dem Blick auf eine neue Morgenröte der Dichtung (gemeint ist Goethe).

Bei der Darstellung der russischen Nihilisten vermißt man einen Hinweis auf die doch erstaunliche Unkenntnis von Autoren, die den Unterschied der Wörter "kritisch" und "nihilistisch" nicht kennen: "Der Nihilist", so wird Turgenjew zitiert, "ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne vorgängige Prüfung kein Prinzip annimmt, und wenn es noch so sehr im Ansehen steht." Zu dem Phänomen des wirren russischen Nihilismus noch eine Bemerkung. Für Tocqueville und andere Autoren des 19. Jahrhunderts standen Rußland und Amerika als die beiden Zukunftsmächte am Geschichtshorizont. Es gibt in Amerika und wohl überhaupt in der englischsprachigen Welt keinen Kult des Nihilismus, und bis heute scheint die Literatur dazu ein kontinentaleuropäisches (und vielleicht östliches) Phänomen zu sein.

Bei der weiteren von Vercellone zusammengestellten Geschichte bleibt der Nihilismus ein As im philosophischen Kartenspiel. Da kann leichtfertig von der "zur Fabel gewordenen Welt" gesprochen werden - was tuts, wenn schon begrifflich fabuliert wird? Man hätte gewünscht, daß der Autor selbst das Fluktuationswort mit kritischer Distanz und der Nachfrage nach Begründungen verfolgt hätte. Sonst verkommt die Philosophiegeschichte zum Verzeichnen der Sätze, die am lautesten und erfolgreichsten auf den Markt gebracht werden.

Titelbild

Federico Vercellone: Einführung in den Nihilismus. Aus dem Italienischen von Norbert Bickert.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
215 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770533038

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch