Entgrenzende Erzählkunst

Hugo Claus bekommt am Sonntag den Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Tja, draußen hagelt es. Wir sitzen hier doch schön im Warmen und Trockenen, nicht wahr, Meneer? Was draußen passiert, interessiert uns nicht. Das Wetter ist wie die Regierung, man kann doch nichts daran ändern, habe ich nicht recht?"

In der Kneipe hocken, Bier oder Kaffee trinken, palavern und Karten spielen, das ist so etwas wie die Urszene des literarischen Werkes von Hugo Claus. Man muss nicht in die Welt hinaus, um Neuigkeiten zu erfahren, nein, die Welt kommt herein, lässt sich am Tresen nieder, unterhält sich mit dem Wirt hinterm Schanktisch oder mit dem Dorfdepp, der sich kaum artikulieren, aber die Ohren gewaltig aufstellen kann. Die Welt, das ist vielleicht ein Handlungsreisender, der neben seinem Musterkoffer auch noch Wissenswertes aus der Hauptstadt mit sich führt, oder ein Polizist, der von einem Verbrechen zu berichten weiß. Und schon wird das Gespräch politisch oder anzüglich, dumm oder geistreich, lustig oder ernst oder alles durcheinander. Man hockt beieinander und erklärt sich das große Welträtsel Wirklichkeit, das irgendwo da draußen seine Opfer fordert. Und alles, was geschieht, entsteht aus der Erzählung, aus der Phrase, aus dem bös entschlüpften oder garstig in den Ring geworfenen Wort.

Apropos Ohren: Die beiden großen, eindrucksvollen Exemplare des Belgiers Hugo Maurice Julien Claus, Jahrgang 1929, sind im Alter noch etwas größer geworden und passen auf kein Foto. Anno 1998, als er in Stockholm den Aristeion Literaturpreis erhielt, haben wir vergeblich versucht, diese schönen, lappigen Ohren eines alten, weisen Elefanten rückwärtig zu fotografieren: Auf den Bildern war immer nur der Kopf zu sehen, von vorn eben nur das Gesicht, eine Seelenlandschaft, die von Selbstvertrauen und Sensitivität (und Sexus), von Ungeduld und Unordnung (und frühem Leid), von Kunst und Können (und auch von Komik) erzählt.

Ganz früh schon haben ihn die Eltern in ein Pensionat gegeben, wo er, von Nonnen erzogen, die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte. Nach den Internatsjahren besuchte Hugo Claus eine Kunstakademie und eine Schauspielschule und schloss sich 1948 dem belgischen Zweig der internationalen Malerbewegung COBRA an - ein Kürzel für Copenhagen, Brüssel und Amsterdam. Bedeutende Künstler wie Pierre Alechinsky und Asgar Jorn prägten ihn, in Paris wandte er sich dem Surrealismus zu (und begegnete Antonin Artaud), später schwärmte er für Raymond Queneau und übersetzte Dylan Thomas. Die Malerei und nicht die Literatur war seine erste Wahl (und so macht die Literatur auch nur einen Teil seines Schaffens aus), er sehnte sich nach einem expressiven, vitalistischen, gleichwohl rationalisierten und traditionsbewussten Ausdruck.

Zum Schreiben fand er früh - und versuchte sich bald in allen Genres: als Lyriker, Dramatiker und Romancier, als Bühnenbildner, Regisseur und Übersetzer. Ende der vierziger Jahre entstanden die ersten Gedichte, den ersten Roman schrieb er in seiner Pariser Zeit (1950-1952), später experimentierte er mit dem Film und inszenierte eigene Stücke. Wenngleich er 'engagierte Literatur' im Sinne des sozialen Romans ablehnt, ist doch sein Werk sozial und gesellschaftspolitisch angelegt: Ein Gedicht huldigt Georg Büchner (den er auch übersetzt hat), sein Stück "Heimreise" (dt. UA 1993) thematisiert Tücke, Doppelmoral und Opportunismus, seine Romane werden als Sittengemälde gelesen - kurz: der Skandal ist die Quelle seiner Produktivität. 1968 handelte er sich mit einem Experimentalfilm, in dem er die Heilige Dreieinigkeit durch drei nackte Männer darstellen ließ, vier Monate Gefängnis und eine Geldstrafe ein - er habe, hieß es in der Urteilsbegründung, das "Schamgefühl" in der Öffentlichkeit verletzt. Er war ein wilder Geselle und soll Sylvia Kristel begleitet haben, als sie in Bangkok "Emmanuelle" abdrehte.

Kleinbürger, Typen wie Felix der Kater oder Gerard die Flöte, bevölkern sein Werk. Ihr Denken ist genauso provinziell wie die Landschaft oder das Städtchen, in dem ihre Spelunke liegt. Und wenn es keine Kneipe ist, in der sich die Welt widerspiegelt, dann ist es vielleicht eine kleine Buchhandlung, ein Schreibladen oder eine abgelegene Pfarrei, in der sich das Monströse ereignet. Zuletzt las man "Belladonna" (dt. 1996) als Satire auf den Korruptionsfall Belgien und verstand "Das Stillschweigen"(dt. 1996) und "Unvollendete Vergangenheit" (dt. 2001) als Kommentare zur Affäre um den belgischen Kinderschänder Dutroux. Hugo Claus ist Flame (geboren in Brügge) und führt uns die ganze Hässlichkeit Flanderns vor. Als sein Hauptwerk gilt "Der Kummer von Flandern", (dt. 1986), ein - oft mit der "Blechtrommel" verglichener - Schelmenroman über die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in dessen Zentrum eine von den Nazis besetzte belgische Kleinstadt steht, die sich mit ihren Besatzern arrangiert.

Die Belgier sollen, wie man aus Asterix weiß, noch tapferer sein als die Franzosen, und ihre Skandale erschüttern ganz Europa. Ihr Spiel ist eine fragwürdige Scharade, bei der sie sich gegenseitig hinters Licht führen. Im Werk von Hugo Claus wird aus der Scharade eine Tragödie fast griechischen Ausmaßes, und es überrascht nicht, dass er zahlreiche Klassiker bearbeitet hat, von "Ödipus", "Thyestes" und "Orest" bis hin zu "Lysistrate" und "Phädra". Alexander von Bormann fand die erkenntnisleitende Formulierung, dieses Œuvre sei praktizierte "Entgrenzung", und Bormann meinte es ganz im Sinne der orphischen Entfesselung und Entrückung, in der das Ich alle Kultur hinter sich lässt und sich in orgiastischer Lust auflöst.

Wenn man sich also von Hugo Claus einen Begriff machen will, dann ist es dieser: Sein Werk ist "entgrenzende Erzählkunst", nicht nur, was seine Formen und Inhalte betrifft, sondern auch in Bezug auf seine Verbreitung: Ein aktuelles Werkverzeichnis führt 150 Einzelveröffentlichungen auf und über 100 Übersetzungen in zwanzig Sprachen. Von diesem umfangreichen Werk, das alle Großformen - Lyrik, Prosa, Dramatik - gleichermaßen bedient, kennen wir nur einen kleinen Zipfel, wenn auch einen wichtigen: 22 Übersetzungen ins Deutsche sind seit 1960 erschienen, Theaterstücke ebenso wie Gedichte, Romane und Erzählungen. Der Verlag der Autoren nimmt die Bühnenrechte wahr, Klett-Cotta publiziert das erzählerische Werk. Von der Lyrik gibt es bislang eine Sammlung bei Kleinheinrich ("Die Spuren. Ausgewählte Gedichte". 1994) und einen Gedichtband bei Klett-Cotta ("Gedichte". 2000). Es sind im wesentlichen zwei Übersetzerinnen, die das Werk von Hugo Claus ins Deutsche gebracht haben: Waltraud Hüsmert und Rosemarie Still. Auch ihre Leistungen werden gewürdigt, wenn Hugo Claus am 23. März den Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung entgegennimmt.

Titelbild

Hugo Claus: Das Stillschweigen. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998.
246 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3608934189

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Titelbild

Hugo Claus: Unvollendete Vergangenheit. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
174 Seiten, 17,10 EUR.
ISBN-10: 3608934952

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Titelbild

Hugo Claus: Der Schlafwandler. Drei Geschichten.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 360893247X

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