Selbstmord oder Freitod?

Suizid als ein Signum des Wahnsinns oder der Freiheit?

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Die Signatur der Freiheit" von Friedhelm Decher und Alfred Alvarez' "Der grausame Gott" liegen zwei Bücher zur Frage des Suizids vor, wie sie unterschiedlicher kaum ausfallen könnten.

Eine "Studie über den Selbstmord" zu sein, verspricht der Untertitel des bereits 1971 erstmals erschienenen und nun als Taschenbuch neuaufgelegten Buches "Der grausame Gott", dessen Titel auf eine Zeile von William Butler Yeats zurückgeht. Für eine Studie allerdings ist das Werk zu unstrukturiert, geschwätzig und ziellos. Ja man muß es sagen: zu wirr.

Zwischen zwei Suizid-"Fällen", die Prolog und Epilog bilden, befaßt sich Alfred Alvarez in drei Abschnitten mit dem "Hintergrund" und der "geschlossenen Welt" des Suizids sowie dem Verhältnis von "Literatur und Selbstmord".

Der Prolog gilt dem "Fall" Sylvia Plaths, die der Autor persönlich kannte. Zunächst erzählt er ausufernd von Begegnungen mit ihr. Doch gelingt es ihm nie, seinen LeserInnen die Person Plaths nahezubringen. Auch bleibt das Motiv ihres Suizids ungeklärt. Das Raunen des Autors, die Schriftstellerin habe nach zwei vorangegangenen Suizidversuchen "diesmal nicht sterben" wollen, vielmehr sei ihr Tod Folge einer "Kette von Unfällen, Zufällen und Fehlern" gewesen, sie habe einem persönlichen "Ritus" folgend ein "letztes Glücksspiel" gewagt, das sie "verloren" habe, ist rein spekulativ.

Die letzte Begegnung zwischen ihm und Sylvia Plath an Heiligabend 1962 führt ins Zentrum des Prologs. Denn Alvarez fühlt sich schuldig und versucht sich freizusprechen davon, daß er die Schriftstellerin in einer verzweifelten Situation im Stich gelassen hat, um eine andere Verabredung wahrzunehmen. Wenn nun hierfür eine Entschuldigung nicht zu haben ist, so doch die Erleichterung, sein Verhalten im nachhinein öffentlich geißeln zu können. Denn als er ging, wußte er, daß er sie "endgültig, in unverzeihlicher Weise, im Stich ließ." Doch ist kaum vorstellbar, daß dieser Mensch Sylvia Plath, die er als "schizoid" stigmatisierte und ihr eine durch "Niedergeschlagenheit und Krankheit verengte Sicht" attestierte, eine wie auch immer geartete Hilfe hätte bieten können.

Der als "Hintergrund" bezeichnete erste Abschnitt des Hauptteiles erweist sich als ein Konglomerat disparater Beispiele der Verteidigung und Verurteilung des Selbstmordes durch verschiedene philosophische Schulen, Anekdoten und Geschichten von und über Suizidanten sowie Beschreibungen verschiedener Massensuizide kolonialisierter Völker und Gruppen unterjochter Menschen. Der Autor spricht, wiederum pathologisierend, von "Selbstmordepidemien". Immerhin prangert er aber in diesem Abschnitt die brutale und grausame historische Verfolgung des Suizids durch den Staat und insbesondere die Kirche an. Letzterer bescheinigt er, natürlich zu Recht, daß es ihr nicht gelinge, ihre "Ächtung des Selbstmords vernünftig zu begründen". Daß dies nun aber daran liege, daß "weder das Alte noch das Neue Testament ihn ausdrücklich verbieten", ist allerdings kein Argument. Vollends unverständlich ist, daß der Autor der Haltung der Kirchen letztlich doch noch etwas Positives abgewinnen kann. "So brutal die Verurteilung des Selbstmörders durch die Kirche gewesen war, sie hatte sich immerhin auf die Sorge um das Seelenheil gegründet."

Sprachliche Mißgriffe, wie zum Beispiel daß Suizid eine "psychische Fehlzündung" sei, sind eng mit eklatanten inhaltlichen Fehlleistungen korreliert, der Behauptung etwa, daß viele Menschen mit "neurotischen oder psychotischen Beschwerden", die eigentlich "Selbstmordkandidaten" seien, sich in den Konzentrationslagern "bemerkenswert wohl" befunden hätten und demzufolge die Suizidrate in den KZs gering gewesen sei. Angesichts dieser kaum zu überbietenden Verhöhnung von Suizidanten, psychisch Kranken und KZ-Insassen möchte man das Buch auf der Stelle zuklappen.

Überwindet man sich aber und liest dennoch weiter, wird man mit einer Fortsetzung der Pathologisierung der Suizidanten geradezu bestraft. Wenn Alvarez die Logik ihrer Überlegungen darstellt, so kommt dabei die exakte Beschreibung paranoischer Wahnsysteme heraus: "Wenn ein Mensch beschließt, sich das Leben zu nehmen, betritt er eine abgeschlossene und undurchdringliche, jedoch völlig überzeugende Welt, in der jede Einzelheit stimmt und jeder Vorfall ihn in seinem Entschluß bestärkt, [...] während die vernünftigsten Gegenargumente ihm schlichtweg unsinnig erscheinen."

Bis zum Epilog steht man hilflos vor dem Pelemele von geschwätziger Selbstbeschuldigung und Exkulpation, dem Chaos an Informationen, Anekdoten und Gerüchten, untermischt mit Kurzdarstellungen verschiedener Theorien über den Suizid. Zwar entwirrt nun auch der Epilog diese Wirrnis nicht. Doch eröffnet er den LeserInnen ein gewisses Verständnis für das Buch. Beim zweiten "Fall", den der Autor abschließend schildert, handelt es sich nämlich um ihn selbst. Das Bekenntnis, daß er ein "gescheiterter Selbstmörder" sei, kommt allerdings sehr überraschend. Kann er das denn sein, bei so wenig Verständnis für die Tat und noch weniger Einfühlungsvermögen denjenigen gegenüber, die sie vollziehen? Doch Überraschung und Zweifel halten nicht lange an. Denn schnell wird nun deutlich, daß das Buch aus einem einzigen Grund geschrieben wurde, dem nämlich, sich vom eigenen Suizidversuch zu distanzieren, ihn in so weite Ferne wie nur irgend möglich zu rücken. Die Strategie, die Alvarez wählt, um ihn als unwiederholbare Vergangenheit und im Grunde gar nicht eigene Tat von sich zu weisen, besteht darin, sich als Opfer einer nun ein für alle Mal überwundenen geistigen Umnachtung darzustellen. Vor dem Suizidversuch seien seine "lichten Momente" immer seltener geworden, sein Leben "zwanghaft verworren". Er sei nicht mehr Herr seiner selbst gewesen, unverantwortlich also für das, was er tat. "Ich betrat die geschlossene Welt des Selbstmordes. Mein Leben wurde durch Kräfte, die ich nicht in der Gewalt hatte, für mich gelebt." Kurz: Er wurde "allmählich wahnsinnig". Doch all das ist vorbei. Scheinbar beruhigt resümiert er: "Mir ist, als sei all das einem anderen Menschen aus einer anderen Welt widerfahren." Nicht er war es also, sondern ein anderer, einer nicht einmal von dieser Welt, und auch der handelte nicht, sondern ihm geschah etwas. All das mag man als Überlebensstrategie hinnehmen. Nicht hinnehmen kann man jedoch, daß er implizit behauptet, dies sei die Situation und der Weg eines jeden Suizidanten.

"Die Signatur der Freiheit" - auch bei dem Titel des anderen Buches handelt es sich um ein Zitat, diesmal Joseph Fletschers "In Verteidigung des Suizids" entnommen. Anders als bei dem Werk von Alvarez handelt es sich bei dem schmalen Band von Friedhelm Decher um eine wunderbar klar strukturierte Untersuchung. Hier gerät man keinen Moment in Zweifel darüber, an welchem Punkt der Darstellung man sich gerade befindet. Aber das ist nur einer der zahlreichen Vorzüge des Buches gegenüber dem von Alvarez.

"Steht es dem einzelnen frei, über sein eigenes Leben zu verfügen, so daß er es, wenn es ihm angebracht erscheint, dadurch beendet, daß er Hand an sich selbst legt?" Wie die Antworten der abendländischen Philosophie auf diese Frage ausfallen, ist der Untersuchungsgegenstand Dechers. Es geht ihm darum, die "grundlegenden Typen von Argumentationen" für oder gegen den individuellen Suizid vorzustellen. Er referiert und interpretiert die philosophischen Argumentationsstränge kurz, klar und präzise. Allerdings fällt ins Auge, daß er die Gegner der Freiheit zum Suizid weit kritischer unter die Lupe nimmt als deren Befürworter und ihre Argumente oft regelrecht zerpflückt.

Dechers Darstellung folgt im wesentlichen der historischen Chronologie. Doch faßt er innerhalb bestimmter philosophiegeschichtlicher Perioden Kritiker und Befürworter zusammen. Er beginnt mit den Kritikern des Suizids in Antike und Mittelalter. Im Anschluß an diese ersten "Plädoyers für die Verwerflichkeit der Selbsttötung" stellt der Autor "erste Einsprüche" vor. Die Darstellung der geradezu suizidfreundlichen Haltung der Stoiker, denen ein "wohlüberlegter Freitod" nicht nur "sittlich erlaubt" sondern in einer Reihe von Fällen geradezu Pflicht war, schmückt er mit Anekdoten über das freiwillige oder unfreiwillige, in jedem Fall aber kuriose Lebensende einiger ihrer Schulhäupter aus. Doch schaden solche Einsprengsel dem Buch nicht, sondern machen es flüssiger zu lesen. Nach der Stoa wurde erst wieder im 16. Jahrhundert eine relevante Stimme zur Ehrenrettung des Suizids laut. Es war keine geringere als die Montaignes.

Mit dem Übergang zur Neuzeit verläßt der Autor die systematisch durchdrungene Darstellungsweise und folgt einer nahezu ausschließlich historischen. Sehr schön leuchtet Decher die Tiefen des kantischen Theorems vom Selbstmord als Pflichtverletzung gegen sich selbst aus, wobei er auch kurz Schopenhauers Kritik daran vorstellt. Er versuche den kantischen "Begriff eine Pflicht gegen sich selbst als unsinnig" zu entlarven. Daß dies jedoch mißlingt, weil er Kant einen fremden Pflichtbegriff unterschiebt, entgeht Decher. Nach Fichte und Hegel wendet sich der Autor Schopenhauer selbst zu, dem Großmeister der theoretischen Willens- und Weltverneinung und Alleszermalmer ganz eigener Art. Ihm widmet er sich am eingehendsten. Schopenhauer, der dem Suizid "viel Verständnis" entgegenbringe, ohne ihn zu empfehlen, verlange "echt moralische Gründe" für eine Suizid-Kritik. Die allerdings könne weder die Religion vorbringen, noch die Philosophie - außer Schopenhauers eigener selbstverständlich. Diese ziele nun nicht "auf eine Verurteilung des Selbstmörders", sondern versuche nachzuweisen, daß der Suizid "letztlich ein vergebliches Unterfangen" sei, da er "nicht weit genug" gehe und die "eigentliche Dimension, in der die Entscheidung über Sein und Nichtsein" getroffen werde, gar nicht erreiche. Nach Schopenhauer sei der Suizid "im Letzten" doch noch ein "Ausdruck einer starken Bejahung des Willens zum Leben. [...] Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheut." Schopenhauer ziehe hieraus die Konsequenz, daß nur der Freitod durch Askese, genauer gesagt: der freiwillige Hungertod, zulässig, da zielführend sei. Schopenhauers Philosophie des Suizids ist ganz unverkennbar diejenige, der sich der Autor am stärksten verbunden fühlt.

Einem der Schüler Schopenhauers galt der Suizid nichts weiter als "krasseste Selbstsucht". Die Rede ist von Eduard von Hartmann, dem nicht ganz verdientermaßen erfolgreichsten der Diadochen. Auch Decher erwähnt leider nur ihn. Zwar sei für Hartmann jegliches Glück Illusion, doch verdamme er mit dem Selbstmord auch Askese und Enthaltsamkeit. Hartmanns Philosophie, der gemäß die "Menschheit als ganze" auf das "Nichts, das Nirwana" zustrebe, wird von Decher als "anthropofugale Perspektive" bezeichnet. Ein Terminus, der hier allerdings kaum zu rechtfertigen ist; wurde der Begriff des Anthropofugalen doch erst ein ganzes Jahrhundert später von Ulrich Horstmann zur Bezeichnung seiner eigenen Philosophie der Menschenflucht geprägt, die mit Hartmann nichts, aber einem seiner Kontrahenten innerhalb der Schopenhauerschüler, Philipp Mainländer, sehr viel zu tun hat.

Zu wohlwollend fällt die anschließende Beurteilung von Nietzsches bramarbasierender "Apotheose des freiwilligen Todes" aus. Während er für sich selbst vom Suizid als "stolzem Tod" phantasiert, bemerkt Nietzsche beiläufig, ein Kranker sei ein "Parasit der Gesellschaft", dem "in einem gewissen Zustand [...] das Recht zum Leben verloren gegangen" sei. Unverständlich, daß Decher solche Äußerungen kommentarlos stehen läßt.

Zuletzt stellt der Autor vier Theoretiker des Suizids aus dem 20. Jahrhundert vor. Darunter Wilhelm Kamlah, der zwar eine etwas differenziertere Haltung habe, jedoch keineswegs jedem das Recht auf Selbsttötung zugestehe. Vielmehr wolle er es auf eine "verschwindend kleine" Anzahl von "Ausnahmefällen" beschränkt sehen, die dann vorlägen, wenn es "im wohlverstandenen Interesse des Betroffenen" sei, sich zu töten. Wann das der Fall ist, weiß natürlich nicht der Betreffende selbst, dafür aber um so verläßlicher Kamlah. Erstaunlich, daß Decher für diese, gelinde gesagt, paternalistische Haltung kein Wort der Kritik findet.

Insgesamt präsentiert sich Decher als kenntnisreicher Führer durch die Philosophiegeschichte des Suizids, deren Darstellung nur einige kleinere Schwächen anzukreiden sind. Neben den bereits erwähnten gehört zu ihnen auch, daß man die beiden philosophischen Praktiker des Suizids Johann R. Robeck (1672-1735) und Philipp Mainländer (1841-1876) missen muß.

Titelbild

Alfred Alvarez: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999.
325 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3455103294

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Titelbild

Friedhelm Decher: Die Signatur der Freiheit. Ethik des Selbstmords in der abendländischen Philosophie.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999.
200 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3924245797

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