Leiden als Genuß

Zu Karl Heinz Bohrers Theorie des "Poetischen Nihilismus"

Von Kai BuchheisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Buchheister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Dialektik ist die Logik des unendlichen Trostes. Sie verspricht beim Abschied das Wiedersehen und erkennt im Wechsel die Dauer. Der plötzliche Einbruch ins Gewohnte belegt ihr, daß im Grunde Ruhe herrscht. Nichts bleibt ohne sein Gegenteil, alles Bestehende und jede Behauptung erscheint als Hälfte nur, der ein anderes beispringt.

Die Dialektik hat, zumindest in ästhetischen Angelegenheiten, einen Todfeind: Karl Heinz Bohrer nämlich, der seit Jahren mit unversöhnlicher Brillanz gegen Ansprüche polemisiert, die aus der amusischen Sphäre philosophischer Doktrinen an die Kunst gestellt werden. Zunächst identifizierte er die Zumutungen vornehmlich als die einer umfassenden und kritischen Theorie der Gesellschaft, welche die Poesie auf die eigentlich eschatologische Idee von Konsens und Versöhnung verpflichten wollte. Neuerdings jedoch wendet sich Bohrer mit Verve gegen den um sich greifenden gutgelaunten "Hedonismus der Aisthesis" ("Die Grenzen des Ästhetischen"). Diese Feier der Allgegenwart des Hübschen verweigere, indem sie die Grenzziehung zwischen Poesie und Lebenswelt leichtfertig kassiere, der elitären und exklusiven Kunst ebenso ein Eigenrecht wie die nunmehr abgelebte Sozialutopie.

Jenseits der Polemik aber - doch ohne, wie wir dankbar feststellen, ganz auf sie zu verzichten - entwickelt Bohrer seit einigen Jahren eine ästhetische Theorie, die seine eigene Position näher bestimmen will: seine Position, die allerdings als Negation auftritt, denn die zentrale These bezieht ihre intellektuelle, beinahe schon fundamentalistische Brisanz aus dem Bewußtsein von absoluter Nichtigkeit, der "Antizipation des Todes" ("Nietzsche und der Poetische Nihilismus"). Die poetologische Konsequenz dieser bitteren Einsicht nennt Bohrer, einen Begriff Jean Pauls aufnehmend, "Poetischen Nihilismus".

Die 1996 zuerst erschienene Studie "Der Abschied. Theorie der Trauer" erläutert den "Poetischen Nihilismus" am Werk Baudelaires - dem schwarzen Zentralgestirn dieses ästhetischen Kosmos -, an Goethe, Nietzsche und Benjamin. Dabei räumt Bohrer ein, daß sich, trotz wichtigen Ansätzen zu einer radikalen "Theorie der Trauer", die beiden letztgenannten Autoren dem Nihilismus nicht zuschlagen lassen. Vor allem also an Baudelaire und Goethe konturiert Bohrer die sogenannte "Reflexionsfigur des Abschieds" ("Der Abschied"). Detaillierte Textanalysen bestimmen, welche künstlerische Form und Rhetorik das präsenzlose Bewußtsein und der korrespondierende "Poetische Nihilismus" nach sich ziehen. Deutlich tritt die Eigenart der absolut negativen poetischen Ausdrucksweise allerdings vor allem im Gegensatz zu Konzeptionen und literarischen Texten hervor, denen eine teleologische Perspektive eigentümlich scheint. Tatsächlich findet der Nihilismus - seiner Reflexionsform des "Abschieds" entsprechend - unter den Dichtern nicht eben viele Sachwalter. Ja, so konzediert Bohrer einigermaßen resignativ, man könnte "die Verabredung mit dem Unendlichen" geradezu als eine "Obsession der literarischen Moderne" bezeichnen, welcher eminente Autoren des 20. Jahrhunderts - "Proust, James Joyce, Virgina Woolf, André Breton, Aragon, Bataille, Musil" - erlegen sind.

Der Kontrast von "Poetischem Nihilismus" auf der einen und der Teleologie/Utopie, als künstlerischer Restitution eines Verlorengeglaubten, auf der anderen Seite wird prominent am Vergleich der literarischen Verfahrensweisen Goethes und Schillers aufgewiesen. Als "ästhetische Rede wider die Geschichtsutopie" analysiert Bohrer Goethes Schauspiel "Torquato Tasso". Hier ist es weniger die Handlungsebene des Dramas, an der die Tendenz zum endgültigen Abschied zum Vorschein kommt. Wer seine Interpretation an den Geschehnissen orientiert, insbesondere am Konflikt "zwischen höfisch-politischer und poetisch-subjektiver Existenz", verfehlt laut Bohrer "das eigentlich innovatorische Element zugunsten des konventionellen". Vielmehr müsse man die formale Struktur, die gesteigerte Reflexivität der Sprache und die rhetorische Geste des Dramas berücksichtigen, vor allem in den ineinander gespiegelten, oft wiederholten Reden der Reminiszenz und der entsagenden Trauer. Gegenwart oder gar Zukunft finden nach dieser Auffassung im Stück keinen Ort, und eine Perspektivität im Sinne einer Versöhnung der widerstreitenden Diskurselemente ist weder absehbar noch überhaupt intendiert.

Man möchte dieser Auslegung trauen, Bohrers Blick für die Sprachform beeindruckt. Ob man indessen um ihretwillen und zugunsten einer gewissermaßen einheitlichen "Grundatmosphäre der Melancholie" ("Das absolute Präsens") die dramatische Gegensätzlichkeit vernachlässigen darf, die "Torquato Tasso" zweifellos auch charakterisiert, bleibt fraglich. Daran entscheidet sich aber, ob das Werk "die Auflösung des geschichtsphilosophisch-utopischen Motivs" tatsächlich fördert, ob es mithin als "transelegisch im Sinne der Reflexionsform des je schon Gewesenen" ("Der Abschied") gelten kann.

Hingegen ist Schiller, der das "Verhältnis von elegisch beklagtem Verlust (Abschied) und utopisch erhofftem Gewinn (Zukunft) [...] in grandioser Weise thematisiert" ("Das absolute Präsens"), unleugbar der Dichter und Theoretiker einer ideell aufgeladenen, nicht nihilistischen literarischen Moderne, als deren exemplarisches Genre Bohrer die Elegie ausmacht: "Die Klage restituiert in ihren Vorstellungsbildern das Beklagte. Es kommt zu keinem wirklichen poetischen Verlustereignis." ("Der Abschied") Bohrer verwendet große interpretatorische Sorgfalt darauf, die transfigurative Rekonstruktion des Verlorenen bei Schiller als teleologischen Heilsplan zu kennzeichnen, der auch und gerade im Klagegedicht zum Tragen kommt. Wenn in der Elegie "Nänie" "Zeit und Ewigkeit [...] eschatologisch vermittelt sind", kann das Gedicht für Bohrer zum Modellfall werden für jene modern-utopische Form des Abschieds, die dem Nihilismus in die Unendlichkeit entflieht. Kommt dem Theoretiker angesichts der Eindrücklichkeit des Trauermotivs in Schillers Elegie der, dann allerdings wieder verworfene Gedanke, es könne auch Schiller unter die Heroen des Endens zu zählen sein, dann aber doch wohl nicht, weil "Nänie" dafür Raum böte, sondern weil Bohrers Konzeption an sich selbst letztlich dialektisch verfaßt ist: denn dem "Poetischen Nihilismus" bietet sich eine Perspektive der Dauer im Medium souveräner ästhetischer Reflexion an, nicht allerdings - und bei Schiller ebensowenig - geschichtsphilosophische Hoffnung.

Damit ist die Stelle bezeichnet, die den "Poetischen Nihilismus" angreifbar machen könnte: Inwieweit ist ihm - zu guter Letzt! - eine dialektische Bewegung inhärent, die den Umschlag in den Gedanken der Präsenz aufkommen ließe? Das Ästhetische wird als Absolutum bestimmt - und genau damit als eine Instanz, die sich, ganz im Sinne des nihilistisch verworfenen Denkens, von allem übrigen absetzt.

An der Philosophie beklagt Bohrer in jüngster Zeit deren Streben nach Objektivität ("Transsubjektivität"), die leblose Allgemeinheit, durch die "das unglückliche Bewußtsein von Zeitlichkeit" ("Nietzsche und der poetische Nihilismus") systematisch unterschlagen werde. Dagegen wäre abschließend darauf hinzuweisen, daß allein vielleicht in der sehr problematischen Denkmöglichkeit eines nicht-subjektiven, nicht-individuellen Verhängnisses, das zur Gestalt der Kunst fände, der "Poetische Nihilismus" das letzte Wort haben könnte, ohne vom dialektischen Begriff eingeholt zu werden. Die Erfahrung des Todes und der Todesverfallenheit mag jeder einzelne isoliert machen, und insofern handelt es sich bei den Versuchen über die "Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik" (in Merkur. 1999. H. 574,578) nicht eigentlich um poetologische Überlegungen: eher um Gedanken zum Einbruch der Todeserfahrung in das menschliche Bewußtsein. Ja, es drängt sich gar die von Bohrer sonst so verabscheute Vokabel des "Psychologismus" auf, will man die Methode der trauergeränderten Analysen näher kennzeichnen. Wo sich aber "ästhetische Subjektivität" äußert, wie sie Bohrer einst quasi transzendental bestimmte, da erweist sich der "Nihilismus", der doch ein "poetischer" sein will, immer als künstlerische Inszenierung, die ihre eigene Botschaft folglich in die Grenzen des ästhetischen Scheins bannen sollte.

Zweifel regen sich jedenfalls: "Ist die metaphysische Referenz überhaupt abzuwehren?" ("Das absolute Präsens") - Doch daß es dem begnadeten Polemiker so schwer wird, seine Einsichten zu konzeptualisieren, mag am Ende noch den Verdacht aufkommen lassen, daß etwas dran ist am "Poetischen Nihilismus".

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1994.
184 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3518286552

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Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
626 Seiten, 28,60 EUR.
ISBN-10: 3518408070

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Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen.
Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998.
208 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3446194762

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Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Nietzsche und der poetische Nihilismus. 1 Cassette.
Herausgegeben von Stephan Krass.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 1998.
70,60 EUR.
ISBN-10: 3896700626

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