Geschichte als Sammelsurium

Eine "kleine italienische Geschichte" aus dem Reclamverlag

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum es bislang keine wissenschaftlich fundierte italienische Geschichte auf dem deutschen Buchmarkt gibt und sich die deutsche Historikerzunft so schwer mit der italienischen Geschichte tut, ist kaum nachzuvollziehen. Denn schließlich unterhält die Bundesrepublik ein historisches Institut in Rom und das Interesse an Italien ist in Deutschland größer als in so manchem europäischen Nachbarland. Italien selber hat eine moderne, renommierte und diskussionsfreudige Historikerzunft, die lebhaften Austausch mit Kollegen aus Frankreich und England pflegt. Englischsprachige Historiker wie Denis Mack Smith, Harry Hearder, Donald Sassoon und Paul Ginsborg haben sich mit ihren Werke zur neueren italienischen Geschichte in Europa und Italien viel Ansehen erworben, von deren Interpretationen wie von den vielen internationalen Diskussionen kam bisher aber wenig in Deutschland an.

Der Reclam Verlag versucht nun die italienische Geschichtslücke mit einem großen Wurf zu füllen, mit einer "kleinen" Geschichte Italiens von 950 bis zur Gegenwart. Da sich anscheinend kein Historiker finden ließ, der diese "kleine" Aufgabe allein übernehmen mochte, wurden fünf Wissenschaftler mit der Darstellung der verschiedenen Perioden beauftragt. Wenn sich die beteiligten Personen bezüglich Darstellung und Themen abgestimmt hätten, wäre das Resultat vielleicht interessant geworden, so aber ist es ein Desaster. Da prallen die unterschiedlichsten Stile und Darstellungsmethoden unvermittelt aufeinander, es gibt keine Anschlüsse und keine Kontinuität. Statt des großen historischen Wurfs ist ein ungeordnetes Sammelsurium herausgekommen, bestenfalls eine Aufsatzsammlung zur italienischen Geschichte, in der einige Beiträge wenig Neues bieten und eher Geschichte aus der Mottenkiste präsentieren. Thomas Frenz Beitrag über Italien im Mittelalter (950-1454) ist ein Beispiel dafür. Statt einleitender Bemerkungen wie es eigentlich im nachantiken Italien so aussah, welchen Einfluss z. B. Byzanz hatte, wird italienische Geschichte aus deutscher Sicht erzählt. Frenz fängt mit den Ottonen und ihrem Anspruch auf Kaiserwürde an und macht mit den vielen deutschen Königen, die zu Krönungszwecken über die Alpen zogen, weiter. Wie viel Macht so ein fremder Kaiser eigentlich in Italien hatte und worüber er herrschte, bleibt unerwähnt. Genau wie die Entwicklung der italienischen Stadtstaaten und Seerepubliken wenig Beachtung findet, selbst das Mittelmeer als Handlungsraum italienischer Politik wird nur dann erwähnt, wenn es sich um internationale Ereignisse wie die Kreuzzüge handelt. Insgesamt beschränkt sich Frenz weitgehend auf die ermüdende Aufzählung von Päpsten und Kaisern, von denen es in den geschilderten 500 Jahren ziemlich viele gab.

Für den Leser ohne einschlägige Vorkenntnisse muss das folgende Kapitel daher überraschend erscheinen. Rudolf Lill diskutiert "Das Italien der Hoch- und Spätrenaissance", vor allem die Rolle der Stadtstaaten und einzelner Fürstentümer, von denen bislang kaum die Rede war, ohne allerdings die Lücken, die Frenz hinterlassen hat, zu füllen. Während Lills kulturgeschichtliche Darstellung blass bleibt, liegt gerade hierin die Stärke des Beitrags von Angelica Gernert und Michael Groblewski "Von den italienischen Staaten zum ersten Regno d'Italia. Italienische Geschichte zwischen Renaissance und Risorgimento". Bisher vernachlässigte Perspektiven tun sich auf, so diskutieren die Autoren z.B. den Zusammenhang zwischen Barock, römischer Stadtbaukunst und Gegenreformation. Hervorragend ist auch die Darstellung der italienischen Aufklärung und der Rolle, die Städte wie Florenz und Mailand dabei spielten. Etwas zu kurz kommt das napoleonische Italien, das eigentlich untrennbar mit der Geschichte des Risorgimento verbunden ist und deshalb ins nächste Kapitel gehören würde. Gernert und Groblewski gelingt es meistens, Ideengeschichte, Kunstgeschichte und politische Geschichte miteinander zu verbinden, gewisse Holprigkeiten in Stil und Darstellung stören aber zuweilen das Lesevergnügen.

Der unbestrittene Höhepunkt des Bandes ist Wolfgang Altgelds Darstellung des italienischen Risorgimentos. Er beschreibt die nachnapoleonische Ordnung Europas, die auf dem Wiener Kongress ausgehandelt wurde und die die italienischen Hoffnungen auf einen Nationalstaat ebenso enttäuschte wie die deutschen. Italien blieb weiterhin geteilt und von Habsburg und Frankreich dominiert. Allerdings gab es von Anfang an Kreise, die sich nicht mit diesem Zustand abfinden wollten; sie sammelten sich zunächst in der geheimbündlerischen Carbonari-Bewegung, die 1820/21 einen erfolglosen Aufstand wagte. Danach betrat Mazzinis Organisation Junges Italien/Giovine Italia die politische Bühne versuchte, 830/31 und in den 1840ern mehrere Aufstände und scheiterte. Anschaulich beschreibt Altgeld, wie die revolutionäre Bewegung 1848 mit Macht durch Italien fegte und selbst in Rom eine von Garibaldi und Mazzini geführte Republik errichtet wurde. Nach der blutigen Niederschlagung dieser Revolutionen durch österreichische und französische Truppen richtete sich die Hoffnung bald auf eine Einigung von Oben. Camillo Cavour, der ebenso geschickte wie intrigante Premierminister von Sardinien-Piemont, schaffte es 1859/60 unter Ausnutzung einer kriegerischen Niederlage Österreichs, Nord- und Mittelitalien zum italienischen Staat zu vereinigen. Altgeld zeigt aber auch, dass der Erfolg des Risorgimento nicht nur der Diplomatie zu verdanken war und beschreibt liebevoll, wie Garibaldi 1860 Cavour kalt erwischte und mit 1.000 schlecht ausgerüsteten Freiwilligen Sizilien und Süditalien eroberte. Garibaldis Traum von der Eroberung Roms sollte sich allerdings erst 1870 nach der Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen erfüllen. Altgeld schafft in seiner knappen Darstellung, allen Kräften des Risorgimento halbwegs gerecht zu werden, der Diplomatie wie der gesellschaftlichen Bewegung, Cavour, aber auch Mazzini und Garibaldi. Selbst die Rolle der Zivilgesellschaft, der Schriftsteller und Giuseppe Verdis, des künstlerischen Symbols des jungen italienischen Staates, wird gewürdigt.

Leider endet Altgelds Darstellung mit der Regierungsübernahme der Linken im Jahr 1876. Im folgenden Kapitel, "Integrationspolitik oder Imperialismus? Von der Nation zum radikalen Nationalismus und zur Teilnahme am ersten Weltkrieg (1876-1918)", beschränkt sich Rudolf Lill im Wesentlichen auf die Darstellung des Regierungshandelns. Dieses Vorgehen erscheint, gerade wenn er die süditalienische Frage (Questione Meriodonale) diskutiert, sehr holzschnittartig. Lill und auch den anderen Beiträgern, die über neuere italienische Geschichte schreiben, ist vorzuwerfen, dass sie etwas zu leichtfertig mit dem Vorwurf der Rückständigkeit operieren und die neuste Forschungsliteratur über das bourbonische und nachbourbonische Süditalien ignorieren, darunter auch die wichtige Abhandlung von Marta Petrusewicz, "Come il Meridione divenne una Questione. Rappresentazioni del Sud prima e dopo il Quarantotto" (1998).

Rudolf Lills Vernachlässigung der Zivilgesellschaft erweist sich deshalb als besonders problematisch, weil nicht klar wird, welche soziale Basis der Faschismus eigentlich hatte und welche Entwicklungen den Aufstieg der Mussolinis begünstigten. Seine Darstellung des faschistischen Italien (1919/22-1945) ist mit Abstand das schwächste Kapitel der "Kleinen italienischen Geschichte", denn er wird den 20 langen Jahren der faschistischen Diktatur kaum gerecht. Die Zwangs- und Repressionsmaßnahmen gegenüber Arbeiterbewegung und bürgerlicher Opposition werden nur kurz erwähnt, selbst die Entführung und Ermordung des Oppositionsführers Matteotti auf Befehl Mussolinis wird eher verharmlosend dargestellt. Mit Wohlwollen beschreibt Lill dagegen die Innenpolitik Mussolinis, besonders Strukturmaßnahmen wie die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe oder den Ausbau des Eisenbahn- und Autobahnnetzes. Die repressive faschistische Frauenpolitik wird verharmlosend als staatliche Förderung des Kinderreichtums dargestellt. Das faschistische Italien erscheint als harmloses Idyll mit Duce, das allerdings durch das Bündnis mit Nazi-Deutschland zu vielen hässlichen Maßnahmen gezwungen wurde. So verwundert es kaum, dass der oppositionelle Untergrund kaum erwähnt wird und die Resistenza, die unter großen Opfern an der Befreiung Italiens mitwirkte, mit deutlicher Antipathie beschrieben wird. Die eindeutig konservativen Sympathien leiten auch Lills Beschreibung der turbulenten Nachkriegszeit im Kapitel "Italien als demokratische Republik". Hier ergreift er eindeutig Partei für die Christdemokraten, die im immerwährenden Kampf Italien vor den bösartigen Machenschaften der Kommunisten beschützt hätten. Diese Art Geschichtsschreibung in der Art des Kalten Krieges wirkt heute bestenfalls anachronistisch, manchmal allerdings auch unfreiwillig komisch.

Als Informationsquelle für italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der vorliegende Band denkbar ungeeignet. Interessierte sollten zu Friederike Hausmanns "Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis Berlusconi" (siehe literaturkritik.de 3/2003) greifen oder zu den hervorragenden englischsprachigen Darstellungen von Autoren wie Denis Mack Smith, Paul Ginsborg oder Donald Sassoon. Es wäre erfreulich, wenn sich endlich ein deutscher Verlag fände, der das eine oder andere Werk dieser Autoren als Übersetzung auf den deutschen Markt bringen würde, denn bei dem großen Interesse der Deutschen an Italien sollte es genug Leser für fundierte und seriöse italienische Geschichtsschreibung geben.

Titelbild

Wolfgang Altgeld / Thomas Frenz / Angelica Gernert: Kleine italienische Geschichte.
Herausgegeben von Wolfgang Altgeld.
Reclam Verlag, Ditzingen 2002.
517 Seiten, 11,10 EUR.
ISBN-10: 3150170362

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