Großvaters Kamera

Stephan Wackwitz erkundet "Ein unsichtbares Land"

Von Agnes BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Transusigkeit, ein eigentümlicher und mir selber sehr unangenehmer und peinlicher Zustand aus Gelähmtheit, resignierter Subordinationsbereitschaft, zugleich aber Insuffizienz, Verträumtheit, Scham und unterdrückter Auflehnung, die alles nur noch schlimmer macht, überfiel mich angesichts meines Großvaters und seiner Erwartungen regelmäßig."

Das Verhältnis von Stephan Wackwitz, dem Autor dieses Familienromans, zu seinem Großvater Andreas steht unter einem unterkühlten Stern: Der Großvater überfordert den Enkel mit seinen Erwartungen, die Kommunikation zwischen beiden funktioniert nicht, und außerdem scheinen beide in vollkommen unterschiedlichen Welten zu leben und "keinen Draht zueinander" zu haben.

Doch ein neues Kapitel im Leben der Wackwitz' wird aufgeschlagen, als Stephan auf die Kamera seines Vaters stößt. 1939 hatte er sie auf einem Schiff, der "Adolph Woermann", zwischen Angola und Argentinien einem britischen Offizier aushändigen müssen, bevor er in Kriegsgefangenschaft ging.

Die Kamera und die mit ihr verbundenen Erinnerungen sind für Stephan Wackwitz der Impuls, sich mit der Vergangenheit seiner Familie und somit auch mit den Aufzeichnungen seines Großvaters auseinanderzusetzen, und der vorliegende Familienroman mündet in seine Erkenntnis: "Erst am Ende des Jahrhunderts ist mir klargeworden, was mein Großvater und ich aneinander hätten haben können.".

Gekonnt verflicht Wackwitz die authentischen Aufzeichnungen seines Großvaters und seine eigenen Gedanken und Erinnerungen zu einer Identitätsuche, die dem Vater gilt, dem Großvater und dem eigenen Ich. So realisieren Wackwitz und der Leser fast zum gleichen Zeitpunkt, dass der Enkel nur auf diesem literarischen Weg die bisherige Distanz zum Großvater "posthum" überwinden kann.

Auffallende Ähnlichkeiten im Leben der beiden erst so unterschiedlich erscheinenden Charaktere werden herausgearbeitet, und eine Frage drängt sich unweigerlich auf: sind die Schicksalsfäden der drei Männer nicht vielleicht doch determiniert und intensiver ineinander verwoben als erwartet? Oder kann dieser Familienroman vielleicht nur dank der doch in Vergessenheit geratenen und dann wieder aufgetauchten Kamera erscheinen? Bringt sie erst das Porträt der Familie Wackwitz ans Licht?

Doch nicht nur die Familiengeschichte Wackwitz wird dem Leser nahe gebracht: Der Autor verknüpft auch private Geschehnisse mit dem politischen Weltgeschehen und erläutert z. B. die Haltung seines Großvaters zu Hitler und seinem Regime oder seine Stellung zu Rudi Dutschke.

Die Lektüre dieses komplexen Familienromans bedeutet Anstrengung, aber auch Spannung und Anregung sowie Bereicherung. Besonders gelungen sind die ständigen Bezüge von politischem Geschehen und privaten Ereignissen, die den Familienroman zusätzlich zu einer Art Geschichtsroman werden lassen.

Titelbild

Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
286 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100910559

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