Wie hast du's mit der Religion?

Gretchen Dutschkes Kommentar zu Rudis Tagebüchern vermitteln keinen klaren Blick auf den Wortführer der APO

Von Monika MünchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Münch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Idole entmystifizieren zu wollen ist immer eine heikle Angelegenheit. Denn zum einen braucht ein Idol per se die Aura des Besonderen, und zum anderen - welchen Sinn mag es haben, am Schein-Sein eines Toten kratzen zu wollen? Nein, tote Idole sollte man ruhen lassen. Ein aktuelles Beispiel, wie eine Wiederbelebung nicht nur im Ansatz, sondern auch in der Ausführung misslingen kann, sind die Tagebücher von Rudi Dutschke, die jetzt bei Kiepenheuer und Witsch erschienen sind.

Rudi Dutschke ist bis heute der Inbegriff des politisch aktiven Studentenführers, Vorbild für Tausende revolutionsbeseelte 68er und ihre Nachfolger. Welche Gedanken sich diese Kultfigur gemacht hat, welche Motivation hinter seinem Tun stand, darüber können heute höchstens noch seine Tagebücher Auskunft geben. Tun sie es?

Dutschke erschöpft sich in Schlagwörtern, übt sich im Name dropping - zeitweise gleichen die Aufzeichnungen mehr einem Notizzettel als einem zusammenhängenden Text. Viel von dem, was in seinem Kopf vorging, dürfte auch genau dort geblieben sein und den Weg aufs Papier nie gefunden haben. Hinzu kommt die Distanz zu den Ereignissen von einst. Das Resultat ist folglich ein kaum noch verständliches, streckenweise unlesbares Dokument.

Freilich, die Gretchenfrage wird beantwortet, und zwischen den Zeilen entsteht das Bild einer Person, das man sich so nicht vorgestellt hätte: Dutschke sorgt sich um die Eltern, diverse Einträge bezeugen seinen tiefen Gottesglauben. Auch welchen Weg er intellektuell gegangen ist, was er gelesen hat, dokumentiert der Text ausführlich. Ein zentrales Thema: die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Da ist beispielsweise der Weltverbesserer, der die Rollenbilder von Mann und Frau aufbrechen möchte, aber vor lauter Revolution keine Zeit zum Bügeln und zur Kindererziehung findet. Über den Privatmann Dutschke ist überhaupt wenig zu erfahren: "Damals meinten wir, dass das Persönliche politisch sein sollte", schreibt Gretchen Dutschke im Nachwort. Der "Alltag" ihrer beider Beziehung, die Geburt des ersten Kindes - besonders in den Jahren zwischen 1964 bis 1968 - bleiben somit unerwähnt. Auch die Kommentare zum politischen Status quo scheinen oft arg aus dem Zusammenhang gerissen.

Fußnoten sorgen dafür, dass zumindest die nötigsten Hintergrundinformationen gegeben werden - bestenfalls zumindest. Denn an mancher Stelle sind sie nervtötend ausführlich, dann wieder fehlen wichtige Daten. Die Anmerkungen helfen folglich nicht immer weiter, 'die Tagesreste' einzuordnen und zu deuten. So erweist sich vor allem die Zeittafel im Anhang als unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis der Texte.

Im Nachwort schließlich erfährt der Leser von der Witwe und Herausgeberin, dass auch sie ihren Mann nicht durchschaut hat: Daran konnten auch die Tagebücher nichts ändern. Doch Gretchen Dutschke versucht wenigstens, den Nachlass in einen größeren Kontext einzuordnen und ihre kommentierte Veröffentlichung zu begründen: "Rudi beschäftigte sich mit den Islamisten, mit Öl, mit Terrorismus, Krieg und dem Imperialismus, damals der USA und der Sowjetunion. Diese Themen sind auch heutzutage aktuell". Wollte da jemand auf einen lukrativen Zug aufspringen, der derzeit durch die Buchläden dampft? Die griffigen Schlagworte wirken plakativ und substanzlos, wenn wir die Proteste von SDS, APO und RAF dem derzeitigen Widerstandsklima in der BRD gegenüberstellen: Heute hält MTV die Kamera auf demonstrierende Schüler, das Establishment klatscht Beifall.

Auch Dutschke stand im Kameralicht, aber ihm brachte es vor allem den Unmut des Bürgers ein. Am 11. April 1968 passierte das Absehbare: Josef Bachmann, Hilfsarbeiter und Rechtsextremist, feuerte in Berlin aus nächster Nähe drei Mal auf Rudi Dutschke. Wie der sich danach wieder an die Sprache heran tastete, dokumentieren Übungshefte, die ebenfalls abgedruckt sind: "vergessen/träumen/pfeifen/singen" schrieb er. Ein Idol beim Vokabeln lernen: Peinlich intim. Unfair.

So oder so, "Jeder hat sein Leben ganz zu leben" bleibt ein schwieriger Lesestoff: Dutschke hat seine Tagebücher nicht geführt, damit ein anderer sie liest und versteht. Vielleicht war es ihm nicht einmal selber wichtig, sie zu verstehen. Wer sich mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, sollte zwei Fragen vorausschicken: Was war dieses Tagebuch damals für Rudi Dutschke, und was kann es demnach heute für uns sein? Die erste Frage muss unbeantwortet bleiben. Die zweite steht zu bedenken.

Titelbild

Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979.
Herausgegeben von Gretchen Dutschke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
430 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462032240

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