Die Ästhetik der Metropolen - Sinneskulturen und Wissenstopographien

Der Großstadtdiskurs in Literatur und Sachbuch

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

"Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnis und war frei." Mit diesen Worten entlässt der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin nicht nur seinen Helden Franz Biberkopf in das Abenteuer Großstadt. Es ist gleichzeitig der erste Satz des im Jahr 1929 erschienenen Romans "Berlin Alexanderplatz", der schnell zur deutschen Inkunabel des Großstadtdiskurses in der Literatur avancierte. Dabei ist Döblin keineswegs als Vorreiter oder Solitär zu betrachten. Denn die sich an das Thema Stadt anschließenden Diskussionszusammenhänge sind spätestens seit der Jahrhundertwende als zentrale Fragen und Beiträge zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der abendländischen Zivilisation zu begreifen. Explizit werden sie damit auch zu Statements zu den politischen und kulturellen Folgen der gesellschaftlichen Modernisierung, die in allen westlichen Kulturen virulent sind und thematisiert werden. Diese einsetzende Aktualität ist vor allem den historischen Entwicklungen geschuldet.

Waren die Metropolen ehedem der gesellschaftspolitische Fokus westlicher Kulturen, lassen die nationalstaatliche Konsolidierung und die einsetzende Industrialisierung neue, größere, kurz städtische Verwaltungseinheiten entstehen. Das Land, die ehemalige Kornkammer der Nation, verliert in der Folge zunehmend an Bedeutung.

Es sind vor allem die Literaten, bildenden Künstler und Soziologen, kurz die Avantgarde der Geistes- und Kulturwissenschaftler, die am Ende des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung des durch die Industrialisierung veränderten Stadtraums zur ästhetischen Struktur machen. Parallel mit der Einführung des Kinematographen und der Innovationen im Kommunikationsbereich sowie der erhöhten Mobilität durch Eisenbahn und Automobil werden u. a. die Prinzipien der Montage, Serialität, Kontingenz, Zeit, Multiperspektivität und des Fragments als Elemente einer zeitgenössischen Sinneskultur ästhetisch dechiffriert. Anders ausgedrückt konstituieren erst die künstlerischen Zeugnisse über die ästhetische Abstraktion eine präzise Ahnung der neuen urbanen Sinneskulturen und Wissenstopographien. So werden der um die Jahrhundertwende entdeckte Flaneur und das nicht zufällig zur gleichen Zeit zu dem intellektuellen Reflektionsort avancierte Feuilleton zum Beobachter und massenmedial reproduzierten Berichts des Experiments Moderne im Laboratorium Großstadt. In diesem Labor wird dann auch das für das 20. und 21. Jahrhundert so konstitutive Spannungsverhältnis von privatem und öffentlichem Raum permanent neu ausgelotet.

Gleichzeitig zur Elektrifizierung, der Etablierung einer gänzlich neuen Freizeit- und Unterhaltungskultur und dem ökonomischen und kulturellen Reichtum, schreiben sich auf der gleichen real-politischen Ebene auch die neuen gesellschaftlichen Reizthemen in den Text Stadt ein, die gleichsam die Schattenseiten jener fröhlichen Modernisierung bilden: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Armut und Hunger.

Galt zu Beginn des Jahrhunderts vor allem den westlichen Städte Berlin, München, Wien, New York, Sankt Peterburg und Paris das Interesse der künstlerischen und politischen Avantgarde, so hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zumindest der topografische Fokus verschoben. Während im Zuge der vor allem Ende der 70er Jahre geführten Debatte um das Verhältnis zu den Entwicklungsländern auch die afrikanischen Städte zunehmend in den Blick geraten, wird diese Perspektive in den späten 90er Jahren durch den - sicherlich durch die Globalisierung geleiteten - Blick nach China und Asien und die dort entstehenden Mega-Cities transkontinental erweitert.

Weiterhin bleiben jedoch die Großstädte und Metropolen im ästhetischen wie real-politischen Sinne die Labore und Brennpunkte des zivilisatorischen Zusammenlebens, in denen heute zudem die 'neuen' Problembereiche Terror und finanzielle und ökologische Ressourcenknappheit mitgedacht werden müssen. Sie sind also nicht nur in ihrer korrelierenden Funktion als Regierungs- und Finanzsitze die metaphorischen Dreh- und Angelpunkte der demokratischen (und der diktatorischen) Gesellschaften.

In der nationalen Perspektive wird dies vor allem mit Blick auf Berlin deutlich. Nicht erst seit der Jahrhundertwende, sondern vielmehr schon seit dem 18. und 19. Jahrhundert wird Berlin zur kulturellen und politischen Vorzeigemetropole des dann 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Um 1900 ist es gleichzeitig Spielraum monarchistischer Großmachtsphantasien und ästhetisches Laboratorium der Jahrhundertwende. Ist es in der Weimarer Republik Ort der "Goldenen Zwanziger" wie Ausgangspunkt der zwölf 'dunklen Jahre' von 1933-1945, wird nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die geteilte und zerstörte Stadt zum Austragungsort des Kalten Kriegs. In den 70er Jahren feiert Berlin seine topografische und politische Ausnahmestellung. Vielfach ist es dieses Berlin, das sich intellektuelle Kreise heute zurückwünschen.

Spätestens seit dem Mauerfall wird die Stadt zum real gelebten Testfall der Wiedervereinigung, aber auch unter dem Signum der Berliner Republik zur Metapher einer neuen politischen Kultur. Zur Zeit macht die Stadt vor allem durch die angespannte Finanzsituation von sich reden. Aber auch hier wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass es sich um Versuche handelt, mit eingeschliffenen Parametern gesellschaftlichen und politischen Handelns umzugehen und diese - vor dem Hintergrund einer desaströsen finanziellen Lage - neu auszurichten, auch mit Blick auf deren Verfassungstauglichkeit. In diesem Sinne findet in Berlin derzeit eher unbemerkt die Vorbereitung eines finanz- und damit auch kulturpolischen Paradigmenwechsels - mit Präzedenzfunktion - statt.

Franz Biberkopf wird am Ende seiner Odyssee durch den vielfach beschworenen Dschungel Großstadt Hilfsportier. Und während der Text vermerkt "Weiter ist hier von seinem Leben nichts zu berichten", kann sich der auktoriale Erzähler einer aufklärerischen Botschaft nicht enthalten: "Wach sein, wach sein, man ist nicht allein. Die Luft kann hageln und regnen, dagegen kann man sich wehren. Da werde ich nicht mehr schrein wie früher: das Schicksal, das Schicksal. Das muß man nicht als Schicksal verehren, man muß es ansehen, anfassen und zerstören."

Weniger als agitatorischer Aufruf zum Straßenkampf, der nicht nur zum 1. Mai durch Kreuzberg, sondern auch hin und wieder in den letzten besetzten Häuser im Friedrichshain stattfindet, bleibt vielleicht zu wünschen, dass sich eine zunehmend beobachtbare Trennung realpolitischer und ästhetischer Stadtbetrachtung in einer kritischen Ästhetik vereint und durchaus wieder konstruktive Beiträge nicht nur zur Analyse, sondern auch zur Gestaltung einer urbanen demokratischen Kultur, kurz einer polis, im besten Sinne leistet.