Die Geschichte der zugewandten Gesichter

Jan Peter Tripp versammelt in "Unerzählt" Illustrationen zu und nachgelassene Texte von W. G. Sebald

Von Marcel AtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Atze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schlimmes Schicksal, so wird erzählt, soll Bartholomäus in Armenien ereilt haben: Als der König Astyages voller Wut gewahr wurde, dass der Apostel einen großen Teil seines Volkes für das Christentum gewonnen hatte, ließ er ihm die Haut abziehen und das Haupt abschlagen. Betritt man nun die Pfarrkirche von Wertach, so beansprucht eine Holzfigur des Märtyrers alle Aufmerksamkeit. In der Linken trägt er das Messer seiner Schändung, über der rechten Schulter hängt ihm die abgezogene Haut mit dem noch immer edlen Kopf. Man starrt unweigerlich auf das dem Betrachter zugewandte, leidensgezeichnete und geblendete Antlitz. Wie oft mag W. G. Sebald in seiner Kindheit von den leeren Augenhöhlen fixiert worden sein?

Von Beginn an durchzog das Auge, sowohl die erlöschende wie die wiederkehrende Sehkraft, Sebalds dichterisches Werk als Leitmotiv. Mancher Leser wird sich an den Veroneser Fund des umherstreifenden Erzählers in "All'estero" aus dem Band "Schwindel. Gefühle" erinnern, der in einer entlegenen Kapelle ein Fresko des Malers Pisanello entdeckt: Dargestellt ist der heilige Georg, der im Begriff ist auszuziehen, den Drachen zu töten, und also Abschied nimmt von der geliebten Prinzessin. Sebald findet bewundernde Worte dafür, wie kunstfertig die Augen des berühmten Paares geschaffen sind: "Zum Erstaunen ist es, wie es Pisanello verstanden hat, den jäh heraustretenden, seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges." Um dem Leser die Augenscheinnahme zu ermöglichen, werden beide Gesichter zur Ansicht gebracht. Genauso wie in der ersten, dem Dichter Stendhal gewidmeten Erzählung "Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe", sich ein Augenpaar findet, das balkenförmig aus der angestammten physiognomischen Umgebung des Besitzers Stendhal herausgelöst wurde, auf den Betrachter blickt und sogar die Vokabel Augen inmitten des Textes ersetzt.

66 Augäpfel, die auf diese Art in einer geometrischen Figur wie eine Mücke in Bernstein festgehalten sind und in dieser Konservierung ihre Lebendigkeit bewahrt haben, begegnen uns in dem jetzt erschienenen Band "Unerzählt". Ausgeführt wurden sie gleichsam fotorealistisch in Kaltnadelmanier von Jan Peter Tripp, dem bekannten Gegenwartskünstler, der mit W. G. Sebald gut befreundet war. Seit Jahren planten beide dieses gemeinschaftliche Projekt, das Text und Bild zusammenführen sollte, ganz so, wie es Sebald seit jeher in seinen Prosabänden praktiziert hat. Der plötzliche Tod Sebalds im Dezember 2001 hat die Publikation dieses bibliophilen Buches glücklicherweise nicht verhindert. Schon beim Aufschlagen wartet eine Überraschung, denn der Betrachter wird mal von düster, mal von offen dreinblickenden Augen gemustert. Eine Legende identifiziert die Abkonterfeiten, denn es fällt nicht ganz leicht, einen Menschen nur anhand der Augenpartie zu erkennen. Genauso wie umgekehrt ein Gesicht anonymisiert wird, wenn die Augen von einem schwarzen Balken zugedeckt werden. Wer also blickt uns ins Angesicht? Es handelt sich vor allem um Bildende Künstler (die Palette reicht von Rembrandt hin zu Francis Bacon) und Schriftsteller (deren Bandbreite mit den Polen Marcel Proust und Truman Capote gut beschrieben ist). Besonders spannend ist das Augenporträt von Louis Jouvet, einem berühmten französischen Schauspieler. Sein im Licht befindliches linkes Auge schaut aufmerksam, leicht unheimlich wirkt hingegen das gefährlich blitzende rechte Auge, das im Dunkeln liegt. Ist man sich der Faszination bewusst, die das frühe Kino auf Sebald ausübte, so lässt der Name Jouvet aufhorchen. Sein einziger Stummfilmauftritt fand in "Shylock" statt, einem Streifen, der ebenso im Jahr 1913 gedreht wurde wie der Film "Der Student von Prag", welcher in Sebalds Erzählung "Dr. K.s Badereise nach Riva" eine zentrale Rolle spielt. Über die extraordinäre Art und Weise, die Augen sprechend zum Einsatz zu bringen, wo man als Stummfilmdarsteller mit Worten naturgemäß geizen musste, hat sich Sebald ja in einem Essay über den Kinogänger Kafka Gedanken gemacht: "Am gespenstischsten freilich ist der von den männlichen Bühnenkünstlern damals kultivierte, im Film erst richtig zum Ausdruck kommende quasi transzendentale Blick, der gerichtet scheint auf ein Leben, an welchem der tragische Held keinen Anteil mehr hat."

Aus dem Buch richtet übrigens auch ein schwarzer Hund namens Maurice seine treuen Augen auf uns, was erneut an die interessanten Verbindungslinien gemahnt, die sich von diesem postumen Werk hin zu Sebalds bisherigem literarischen Schaffen ziehen lassen. War es nicht ein schwarzer Neufundländer, der wiederum in "All'estero" dem Erzähler und dessen Begleiter, dem schizophrenen Dichter Ernst Herbeck, ein Stück Wegs zurück nach Klosterneuburg Gesellschaft leistete? Das Tier fiel durch sein absonderliches Verhalten und seinen merkwürdigen Blick auf: "Nur manchmal hielt es inne und richtete seine Augen auf uns, die wir wie festgebannt stehen geblieben waren. Ich warf einen Schilling als Seelenopfer in den am Gartentor angebrachten blechernen Briefkasten." Es verwundert daher nicht, dass ein Hund auch in den kurzen Texten eine Rolle spielt, die den abgebildeten Augen gegenüberliegen. Die Zeilen thematisieren zudem das Motiv des Sehens: "Gleich einem Hund / sagt Cézanne / so soll der Maler / schauen das Auge / still & fast / abgewandt."

Sebalds Texte, die Andrea Köhler in ihrem instruktiven Nachwort als metaphorische Miniaturen bezeichnet, spielen zwar nicht explizit mit den Illustrationen, doch scheinen sie einen bisweilen versteckten Dialog zu führen. Augenfällig wird dies etwa beim blinden Blick von Jorge Luis Borges, der von folgenden Worten begleitet wird: "My eye / begins to be obscured / bemerkte Joshua Reynolds / am Vorabend des Sturms / auf die Bastille." Doch nicht nur das semantische Feld des Sehens wird bestellt. Für die nicht wenigen begeisterten Leser von W. G. Sebald ist "Unerzählt" eine wahre Fundgrube von Motiven, die bereits aus früheren Büchern bekannt sind. So etwa das Thema des spurlosen Verschwindens: "Am 8. Mai 1927 / hoben die Kapitäne Nungesser & Coli / von Le Bourget ab / & wurden danach / nie wieder / gesehen." Mit den französischen Flugpionieren, die nur zwei Tage nachdem Charles Lindbergh den Atlantik von West nach Ost überflogen hatte, den großen Teich in die Gegenrichtung bewältigen und die vorherrschenden Westwinde besiegen wollten, gab es kein unverhofftes Wiedersehen. Ein erhofftes Wiedersehen freilich gibt es in diesem Buch mit W. G. Sebald, der sich uns noch einmal zuwendet. Denn, so weiß die Titelminiatur: "Unerzählt / bleibt die Geschichte / der abgewandten / Gesichter."

Titelbild

Winfried G. Sebald / Jan Peter Tripp: Unerzählt.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
80 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446202579

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